Hässliches Mobiliar im schönen Volksheim

Während der Holocaustkonferenz vorige Woche in Stockholm durfte sich Schweden mal wieder als moralische Großmacht präsentieren. Bewusst übersehen wurde von den Gastgebern einmal mehr, dass Schweden für Nazideutschland ein beflissener Alliierter war. Erst als die militärische Niederlage Deutschlands sich abzeichnete, wandten sich die vermeintlich Neutralen den künftigen Siegermächten zu. Hintergründe von Reinhard Wolff

April 1939. Ernsthafte Zweifel an Charakter und Ambitionen Nazideutschlands konnte es kaum noch geben. Im März hatten die Deutschen die Tschechoslowakei besetzt, im Herbst 1938 hatte die so genannte Reichskristallnacht die Radikalität der antisemitischen Entschlossenheit des Regimes unterstrichen. „An den Führer Adolf Hitler zum 20. April 1939. Schwedische Männer und Frauen, die in dem deutschen Führer und Volkskanzler Adolf Hitler den Retter Europas sehen, möchten hiermit ihre tiefe Verehrung und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Wir wollen diesen Gruß mit der Erinnerung an unseren großen König Karl XII. verbinden, der in seinem schweren historischen Kampf vom gleichen Geiste beseelt war, den wir Schweden in Ihrem weltgeschichtlichen Einsatz für die Entstehung Großdeutschlands und für Europas Vormachtstellung wiedererkennen.“ Mit dieser Beweihräucherung, dienernd überbracht zusammen mit einer Büste des „Heldenkönigs“ Karl XII., verherrlichte die „Riksföreningen Sverige-Tyskland“ den „Führer“ zu seinem fünfzigsten Geburtstag.

Gegründet 1937, war die „Reichsvereinigung Schweden-Deutschland“ kein unbedeutendes Grüppchen, sondern nur eine der in der schwedischen Akademikerschaft breit verankerten prodeutschen und pronazistischen Verbände. Sie hatte sogar einen angesehenen Universitätsprofessor als Vorsitzenden, in diesem Fall den Theologen Hugo Odeberg, der 1937 einen antisemitischen Vortrag mit dem Titel „Die Judenfrage“ hielt. Dort wurden, tonangebend für die schwedischen Intellektuellen in ihrem Verhältnis zu Deutschland, Begriffe wie Blut und Boden, Reinheit und Ehre gefeiert. Demokratie ist ihm ein Schimpfwort, der „Führerstaat“ sein Ideal.

Wiederum 1939. In der Universitätsstadt Lund demonstrieren StudentInnen. Nicht gegen Nazideutschland und die Besetzung fremder Länder. Dagegen protestieren sie nicht einmal im Jahr darauf, als ihre dänischen und norwegischen Nachbarn von der Kriegswalze der Wehrmacht überrollt werden. Sondern gegen einen Vorschlag, zehn jüdischen Ärzten Asyl zu gewähren. Begründung: Die Gefahr, dass eine solche Geste „fremde Elemente“ ins Land hole, die das schwedische Volk schädigen könnten. Einer der Studentenführer, der damals die Wichtigkeit der antisemitischen Einstellung hervorhob und vor „orientalischen“ Elementen warnte, wird im Nachkriegsschweden Minister und stellvertretender Justizombudsman werden: Gustaf Petrén. Ein anderer, der vor der „Einverleibung des jüdischen Rasseelements in den schwedischen Volksstamm“ warnte, Hans-Nilsson Ehle, macht als Universitätsprofessor für romanische Sprachen Karriere.

Später werden der Topdiplomat Sverker Åström und Ingvar Kamprad, der Mann, der Ikea gründete, ihr Engagement in braunen Organisationen als „Jugendsünden“ beschönigen. Und auch Regisseur Ingmar Bergman „liebte“ nach eigener Aussage Hitler solange, bis ihm klar wurde, dass die Foto- und Filmdokumente aus den Konzentrationslagern nichts mit alliierter Propaganda zu tun hatten, für die er sie zunächst hielt.

Nazismus und Antisemitismus waren hoffähig in Schweden. Zumindest bis El Alamein und Stalingrad. Sozialliberale und Bauernverband hatten in den Zwanziger- und zu Beginn der Dreißigerjahre ihre Ideologie vom „reinen Volkskörper“ entwickelt. An diese Idee knüpften schließlich die Sozialdemokraten an mit ihren Vorstellungen einer „guten Gesellschaft“ und dem „Volksheim“, das es zu verwirklichen gelte. Konstruktionen, die verbal auffallend viel mit dem „völkischen“ Ideal des Nationalsozialismus gemeinsam haben. Dass das „Heim“ im sozialdemokratisch orientierten Schweden wie in Nazideutschland gleichermaßen eine so starke Metapher mit metaphysischen Dimensionen wurde, ist nach wie vor eines der großen schwedischen Tabuthemen. Zum Glück für das Land konnte sich aus dieser ideengeschichtlichen Tradition in Schweden allerdings keine starke Nazipartei entwickeln. Was HistorikerInnen neben dem zufälligen Fehlen einer charismatischen Führergestalt vor allem darauf zurückführen, dass das völkische Ideengut durch die starke Bauernpartei und mit dem Volksheimgedanken der Sozialdemokraten schon bestens abgedeckt war.

Doch die – bislang auffallend wenigen – Forschungsergebnisse über das Schweden der Dreißigerjahre zeigen, dass der schwedische Rassismus erschreckende Parallelen zum Nationalsozialismus aufwies. So eine kürzlich veröffentliche Analyse der schwedischen Filmproduktion dieses Jahrzehnts: Die Antithese zum dominierenden Konsensideal – das Schwedische sei das „Gute“ und „Überlegene“, das Volk voller „Reinheit“ – wird in einem Zehntel aller Filme vom „hinterhältigen Juden“ repräsentiert. Assoziationen zwischen Juden und Ratten, die im Dritten Reich erst der Film „Der ewige Jude“ (1940) zieht, findet man in Schweden bereits in dem 1933 entstandenen Streifen „Pettersson & Bendel“.

„Der Jude“ steht im Zweifel für alles Böse, verantwortlich für gescheiterte Ehen, ökonomische Konkurse und persönliche Tragödien aller Art. Die Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter lobt 1934 „Pettersson & Bendel“ für die „überzeugende Art“, wie hier der Unterschied zwischen Menschen nordischer und semitischer Rasse dargestellt werde. Von den „Ratten, die das Schiff verlassen“, rapportiert 1938 auch der schwedische Botschafter in Prag, Folke Malmar, seinem Außenministerium nach Stockholm angesichts der nicht enden wollenden Schlange deutscher Familien jüdischer Herkunft vor dem Botschaftsgebäude, die nach Schweden einreisen wollten. Man könne doch wohl nicht noch mehr „solcher Immigranten, die, was zweitausendjährige Erfahrung lehrt, sich nie assimilieren“, ins Land einlassen.

Er trifft offenbar den damals auch in seinem Dienst üblichen Ton. Eine restriktive Flüchtlingspolitik gegenüber Juden hatte Schweden schon 1927 eingeführt und bald darauf noch verschärft: Der Asylgrund der Verfolgung aus rassischen Gründen wurde abgeschafft. Nahezu alle jüdischen Asylsuchenden wurden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgelehnt. Zur Begründung wurde offen auf antisemitische Vorurteile Bezug genommen. Bei der 1938 von US-Präsident Teddy Roosevelt initiierten Evian-Konferenz macht der schwedische Delegierte Gösta Engzell für seine Regierung klar, dass diese nicht die nazistische Verfolgung als Hauptproblem erachtet, auch nicht die akuten jüdischen Flüchtlingsströme aus Deutschland und Österreich. Vielmehr seien die Juden das Problem, „die europäisch-jüdische Emigration als Gesamtheit“. Nach der „Reichskristallnacht“ verschärft Schweden im Gegensatz zu vielen anderen demokratischen Ländern seine Flüchtlingsgesetze. „Es scheint“, so der Historiker Paul Levine, „man hat in Schweden jüdische Flüchtlinge mehr gefürchtet als Hitler und den Nazismus.“

Im Jüdischen Museum in Stockholm ist seit Oktober vorigen Jahres die Ausstellung „Im Schatten des Krieges: Schwedens Juden 1933 – 1945“ zu sehen. Gleich beim Eintritt in die Ausstellung haben die BesucherInnen die Wahl, sich nach links zu wenden, wo ein düsterer Raum wartet, dessen Boden mit Kies bedeckt ist und über dem schwer eine riesige Hakenkreuzfahne hängt. Oder nach rechts, wo ein helles Carl-Larsson-Idyll mit leuchtblauem Himmel und grüner Wiese lockt – dessen Farben aber zu grell sind und damit seltsam falsch und surrealistisch wirken. An den Wänden hängen Collagen aus Dokumenten, die auf den ersten Blick dekorativ aussehen, aber beim näheren Hinsehen durch ihren Inhalt erschrecken. „Schweden den Schweden“, „Kauft nicht bei Juden‘“, Flugblätter mit der Aufforderung, die „Judeninvasion zu stoppen“, Fotos von durch die Innenstädte von Stockholm und Göteborg marschierenden Kolonnen der schwedischen „Hitlerjugend“. Und die mit dem berüchtigten „J“ gestempelten Pässe.

Der Judenstempel war nicht von den Nazis erfunden worden. Er gelangte auf Drängen Schwedens (und der Schweiz) in die Pässe jüdischer BürgerInnen, damit man diese an den Grenzen schneller herausfischen und abweisen konnte. Die Flugblätter und Dokumente sind keine Übersetzungen deutscher Vorlagen. Sondern Zeugnis damals auf den Straßen verteilter und an den Wänden und Schaufenstern hängender Eigenproduktion. Weder Schwedens Politiker noch Akademiker, Journalisten, Wirtschaftsbosse oder Militärs, Pfarrer oder SportlerInnen ziehen sich erschreckt zurück, als Hitler seine Angriffskriege beginnt und mit der Judenvernichtung ernst macht.

Im Gegenteil: Die zwischenstaatlichen Verbindungen auf allen Ebenen und in allen Sektoren werden in den ersten Kriegsjahren immer fester geknüpft. Militärs und Journalisten wallfahren geradezu nach Deutschland, um die neue Großmacht aus der Nähe kennenzulernen und sie danach zu Hause in den höchsten Tönen loben zu können: Keine Macht der Welt könne dieser perfekten Kriegsmaschinerie widerstehen. Unüberwindlich sei Deutschland nicht nur wegen seiner technischen und organisatorischen Dominanz, sondern auch und gerade, weil die Werte und Ideen, die es repräsentiere, allen anderen weit überlegen seien und den Forderungen der Zeit entsprächen.

Unter dem Mäntelchen der politischen Neutralität macht die Wirtschaft glänzende Geschäfte mit dem ansonsten vom Welthandel immer mehr abgeschnittenen „Dritten Reich“. Schweden liefert nicht nur das wichtige Eisenerz, sondern beispielsweise auch in Form seiner Kugellagerfabriken unverzichtbares Know-how für die NS-Kriegsmaschinerie. Dass man dafür auch mit Goldbarren bezahlt wurde, die mit einiger Wahrscheinlichkeit aus in besetzten Ländern beschlagnahmtem „Raubgold“ und möglicherweise aus in KZ eingescholzenen Zahnplomben und Eheringen stammte – hierzu machte man sich vorsichtshalber keine Gedanken.

Der zuständige Finanzminister Ernst Wigforss, der grünes Licht für diese Geschäfte mit der deutschen Reichsbank gab, konnte gleichzeitig einer der wenigen offenen Antinazis in der Regierung sein und – ohne hierin einen Widerspruch zu sehen – diese Transaktionen als Hauptverantwortlicher mitorganisieren. Es entsprach offenbar dem Zeitgeist, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland für ebenso unproblematisch zu halten wie den Antisemitismus, selbst wenn man das Naziregime durchschaute, es verurteilte oder gar bekämpfte.

Eine von keiner moralischen Anfechtung angekratzte Selbstbewahrungsstrategie ließ Schwedens Politiker keinen Gedanken daran verschwenden, dass man etwa über seine Diplomaten in Berlin oder andere Kanäle unangenehme Fragen zu diesem oder jenem Aspekt deutscher Kriegsführung stellen oder sich gar in „innere“ Angelegenheiten des Deutschen Reichs einmischen könnte – oder sollte. Schweden selbst gab Einmischungen der Deutschen stets prompt nach. Dienerte tief und ergeben, falls sich der deutsche Botschafter über einen auch nur zwischen den Zeilen deutschfeindlichen Zeitungsartikel beschwerte. Hielt Polizei und Justiz an, alle antideutschen Äußerungen streng zu verfolgen.

Mehr als zwei Millionen Soldaten der Wehrmacht und der SS durften das neutrale Schweden als Transitland auf dem Weg nach Norwegen und Finnland nutzen. Ohne die teilweise als Rote-Kreuz-Transporte getarnten Eisenbahnzüge, Nachschubtransporte über schwedische Häfen und Überflugrechte für deutsche Flugzeuge wäre die deutsche Front im hohen Norden wesentlich eher als 1944 zusammengebrochen.

Deutsche Landser berichten in ihren Feldpostbriefen mit einiger Verwunderung und Freude, wie sie bei der Durchfahrt auf allen schwedischen Bahnhöfen von mit Hakenkreuzfahnen winkenden Menschen freudig begrüßt werden. SS-Bataillone werden von Schwedens Marine zum Hafen von Luleå eskortiert, in dessen Nähe ein umfangreiches deutsches Nachschublager angelegt werden soll. Der Historiker Lars Gyllenhall: „Hätte Deutschland Murmansk erobert, hätte es dies dem Beitrag des neutralen Schwedens zu verdanken gehabt.“

Mit „Bewunderung und Furcht“ hat der Historiker Gunnar Richardson seine vor vier Jahren entstandene und bis dahin einzige (!) Studie der schwedisch-deutschen Beziehungen der Jahre zwischen 1940 und 1942 betitelt. Und so etwa wie in diesem Titel will man diese Zeit auch rückblickend gerne sehen.

Bewunderung, gewiss, die habe es vereinzelt gegeben. Schweden war ja praktisch seit dem Mittelalter kulturell, ökonomisch und politisch immer stark mit Deutschland verbandelt gewesen. Alter Russen- und neuer Kommunistenschreck sowie Nazipropaganda hätten diese starken Bande auch bis in die ersten Kriegsjahre hinein nicht zerreißen lassen. Womit man, darauf wird in Schweden oft hingewiesen, in Europa ja auch gar nicht allein gestanden habe. Und hatte man angesichts der machtpolitischen Lage eigentlich eine andere Wahl gehabt, um eine deutsche Besetzung zu vermeiden, als sich den Wünschen der aggressiven Großmacht zu beugen?

Alle Länder haben ihre eigenen Mythen und Erklärungsmuster, was ihr Verhalten im Krieg und in den Kriegsjahren angeht. Der Unterschied zwischen Schweden und den meisten von den Nazis tatsächlich militärisch besetzten Ländern ist augenfällig. Musste in letzteren das Bild von dem Widerstand, der gefälligst breit, durchgängig und im Volk fest verankert zu sein hatte, wie oft nach Kriegsende behauptet, meist im Nachhinein revidiert und der Kollaboration ein wesentlich breiterer Raum eingeräumt werden, kam man in Schweden erst gar nicht auf die Idee, sich möglicherweise für mangelnden Widerstand gegen die Naziverbrechen schämen zu müssen.

Ohne Schuldgefühle fand man auch noch einen Grund, stolz zu sein auf eine Haltung, die ein schwedischer Historiker mit der eines Hundewelpen gegenüber seinem neuen Herrn verglichen hat: Diese „Realpolitik“ habe das Land gerettet und damit ihre Rechtfertigung bewiesen.

Bis in die Neunzigerjahre hinein gab es keine ernsthafte Diskussion über die moralische Bewertung dieser Nachgiebigkeit und der Selbstverständlichkeit, mit der man andere Nationen stellvertretend kämpfen ließ. „Neutralität“ wurde nicht als „neutrales Verhalten“ definiert, sondern als Ziel, das Land aus dem Krieg herauszuhalten – wobei dieser Zweck jedes Mittel heiligte. Um dieser Tugend zu genügen, durfte auch die Fahne in jede Richtung gedreht wurde: Hauptsache, man erwischt den Wind des Sieges.

So wurden auf wunderbare Weise zum passenden Zeitpunkt aus überzeugten Nazis „El Alamein-“ und „Stalingrad-Demokraten“. Deshalb durfte das Land gegen Kriegsende auch mit humanitären Einsätzen, die mit Namen wie Raoul Wallenberg und Graf Folke Bernadotte verbunden sind, glänzen. Diese Menschlichkeit gab es ja auch – Aktionen zur Rettung von Juden. Spät zwar – der schwedische Militärattaché in Berlin rapportierte bereits in einem Promemoria vom 29. Oktober 1941 von Massenerschießungen von Juden –, aber nicht für alle zu spät. Die Deportation norwegischer Juden vom November 1942 an lag dann doch zu nahe vor der schwedischen Haustür, um sie noch ignorieren zu können.

Sie führte zu einem Umschwung der Politik Stockholms. 1943 unternahm man große Anstrengungen zur Rettung von dänischen Juden. Mehr als 7.000 von ihnen wurden über den Öresund gerettet, etwa 1.500 aus Norwegen. Gleichzeitig machte man aber die Grenze gegenüber den baltischen „Ostjuden“ dicht, wohl wissend, welches Schicksal diese erwartete. Auch gab es regelrechte Verhandlungen auf Regierungsniveau über die Aufnahme von Juden aus Deutschland. Berlin zeigte sich nicht einmal böse auf Schweden: Für strategisch wichtige Waren war man dort auch bei der „Endlösung“ zu Kompromissen bereit, wie Yehuda Bauer in seinem Buch „Jews for Sale?“ nachgewiesen hat.

Mit plötzlicher Menschenliebe hatte die neue Politik aus Stockholm nichts zu tun. Ende 1942 zeichnet sich die militärische Niederlage des „Dritten Reichs“ ab. Die Westalliierten verstärken ihren Druck auf Schweden, seine Politik der Opportunitäten zu ändern. Es war also höchste Zeit, das schwedische Ansehen zu verbessern und eine Basis für gute Beziehungen zu den vermuteten Siegermächten zu legen.

Das Wort des damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson, Chef einer breiten Sammlungsregierung („Wir kämpften unseren Kampf“), gilt in den meisten Schulbüchern noch immer als ausreichendes und endgültiges Wort zum Thema: Angesichts eines übermächtigen Deutschlands die Zugeständnisse machen, die unbedingt notwendig waren. Und sie wieder zurückzunehmen, so schnell dies die Umstände zuließen: Realpolitik eben.

Die „dummen Geschichten am Rande“, wie der eifernde Antisemitismus, teilweise auch das allzu bereitwillige Tanzen nach der deutschen Pfeife, galten als Abweichungen, unbedeutende Ausnahmen von diesem geraden und zielbewussten Kurs. Die Forschungsergebnisse der jüngeren Zeit legen eher nahe, dieses Bild umzukehren. Realpolitik als Deckmantel eines breiten gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses, mit dem Schweden sich ein ganzes Stück weit schon auf den Weg gemacht hatte – detaillierte Listen mit Namen und Adressen der Jüdinnen und Juden, die man als erstes verhaften wollte, lagen bereit –, ein getreuer Vasall des siegreichen Deutschlands zu werden? Zu viele problematische Dimensionen gibt es, die recht fugenlos in eine solche Deutung passen. Nicht nur was den blühenden Antisemitismus angeht – den gab es auch woanders in Europa –, sondern beispielsweise auch die Faszination, die ein Begriff wie „Reinheit“ ausstrahlte.

Wie verhielt es sich mit den massenhaften Zwangssterilisierungen und der dahinter sich verbergenden Ideologie eines reinen, von allem Kranken gesäuberten Volkskörpers? Führend in der „Rassenhygiene“-Forschung waren zunächst nicht etwa deutsche, sondern schwedische Institute. Als in Berlin das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen wurde, konnte man sich auf schwedische – und insgesamt nordische – Vorbilder stützen. Eine breite Parlamentsmehrheit und nicht etwa eine Schar gleichgeschalteter Braunhemden verabschiedete 1941 in Stockholm ein Sterilisierungsgesetz, wonach „Asoziale“ zur Zwangssterilisierung freigegeben wurden. Und mangels eines politischen Bruches durften diese Gesetze weiterleben und ihre fleißige Anwendung auch bis weit in die Nachkriegszeit hinein fortgesetzt werden. Erst 1970 hielt der Reichstag es dann doch für angebracht, einen Strich unter dieses rassenbiologische Erbe zu ziehen.

Doch auch Design, Architektur und Kunst weisen auffallende Parallelen auf. Nachdem Ikea-Kamprads braune Vergangenheit ans Licht gezogen wurde, stellte man die Frage, ob das unmögliche Möbelhaus nicht auch perfekt die normierten Musterheime eines siegreichen Nazideutschlands hätte möblieren können. Das Konzept schöner und preisgünstiger Heimeinrichtung für alle, Einfachheit und Standardisierung wurde in Schweden in den Zwanziger- und Dreißigerjahren als Weg propagiert, über solcherart „Ästhetikerziehung“ der Utopie des neuen „Volksheimmenschen“ näher zu kommen. Wenn auch mit anderen Intentionen entspricht dies verblüffend den Bemühungen des „Dritten Reichs“ um eine „Idealeinrichtung“.

Beim Thema Klarheit, Reinheit und Licht gerät auch ein anderer urschwedischer Künstler ins Zwielicht: Carl Larsson. Verläuft beim Werk dieses Nationalromantikers die Grenze zwischen akzeptabler idyllischer Kalenderbildromantik und fragwürdigem Nationalismus, ja Rassismus, wirklich erst bei den späten Monumentalwerken wie dem „Midvinterblot“ („Mittwinterblut“) – „diese Hymne an unsere stolzen rassenbewussten Vorfahren“, so die nationalsozialistische Zeitung Vår Kamp („Unser Kampf“) am 15. Januar 1932.

Oder vielleicht schon weit vorher? Solche Fragen werden angekratzt und wieder begraben. Es war die wachsende Welle rassistischer und neonazistischer Gewalttaten, die den Blick schwedischer Medien, HistorikerInnen und PolitikerInnen wieder einmal in etwas aufmerksamerer Form nach rückwärts schweifen ließ. Und sie stellten fest: Diese neonazistischen Gruppen mussten nach historisch unbelasteten Bildern nicht lange suchen. Sei es, was Namen und Symbole angeht, seien es persönliche Vorbilder oder ideologisches Gedankengut.

Im Zusammenhang mit der großen Holocaustkonferenz, zu der Schweden kürzlich eingeladen hatte, versprach Ministerpräsident Göran Persson mal wieder „lückenlose Aufklärung“. Es ist nicht das erste Mal, dass solch ein Neuanfang versprochen wird. Aber wie oft kann man neu anfangen? Wann erkennt man, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht mit Mammutkonferenzen beginnt – und damit endet?

Zwei Tage vor Eröffnung der Konferenz legte die Regierung einen Gesetzesentwurf vor, mit dem das Asylrecht verschärft wird. Personen, die künftig in Folge einer Massenfluchtsituation – aktuelles Beispiel: Kosovo – nach Schweden kommen, können erst nach zwei Jahren Asyl beantragen und erhalten bis dahin nur eingeschränkte Sozialhilfeleistungen. Und gerade beschloss die Einwandererbehörde die Asylanträge von sieben russischen und ukrainischen Juden abzulehnen. In den Rücken des einen, des 30-jährigen Alexis, haben russische Nazis der RNE („Russische Nationale Einigkeit“) einen Davidstern eingebrannt. Das Einwandereramt begründet die Ablehnungen damit, die russischen und ukrainischen Behörden duldeten antisemitische Handlungen nicht. Ein Asylgrund für Juden bestehe deshalb nicht.

Reinhard Wolff, 49, lebt in einem kleinen Dorf südlich von Stockholm. Er schreibt seit 1984 für die taz und ist seit 1989 Korrespondent für Skandinavien.