: Auf den Schultern der Renegaten
Die Metropole als Bastion und Emblem des russischen Kommunismus: Moskauer Fotografien von denZwanzigern bis heute im Russischen Haus für Wissenschaft und Kultur ■ Von Aureliana Sorrento
„Warum blickt die Pionierin nach oben?“, fragte ein Juror bei einer Fotoausstellung in Moskau 1935. „Das ist ideologisch falsch. Pioniere und Komsomolzen müssen vorwärts blicken.“ Er sprach von Alexander Rodtschenkos berühmter Fotografie „Die Pionierin“, und sein Befund war symptomatisch für die kleinbürgerliche Engstirnigkeit, die in den Dreißigerjahren das geistige Klima der Sowjetunion vergiftete.
Damals hieß es, Rodtschenko, einer der Wegbereiter der neuen sowjetischen Fotografie, sei ein Renegat und Formalist. Statt die sowjetische Wirklichkeit abzubilden, würde er westliche Fotografen nachahmen. Dabei hatte Rodtschenko schon 1928 in einem Vortrag klar gemacht, dass er und seine Freunde des LEF (Linke Front der Kunst) die Fotografie in erster Linie als dokumentarisches Medium, nicht als Teil der zeitgenössischen Kunst verstünden. Eine Auffassung, von der seine Serien von Fotoreportagen über den Aufbau des neuen Staates zeugen.
Bloß dass Rodtschenko den Kunstkrempel der vermeintlich realistischen Fotografie über Bord geworfen hatte, um andere Wege zu suchen. Frosch- und Vogelperspektiven, asymmetrische Schnitte und diagonale Bildkonstruktionen sollten die Russen an ein „neues Sehen“ gewöhnen – ganz im Einklang mit der Lehre von László Moholy-Nagy, dessen Bauhaus-Buch „Malerei, Fotografie, Film“ in Moskau für Aufsehen gesorgt hatte, doch auch mit der Auf- und Umbruchstimmung der ersten Revolutionsjahre.
Rodtschenkos verleumdete „Pionierin“ bildet nun den Auftakt zur Ausstellung „Moskau 1920 bis 2000. Fotografie“ im Russischen Haus für Wissenschaft und Kultur. Die Schau versammelt Werke der fotografischen Avantgarde und zeigt, wie nachhaltig die frühen Experimentierer die folgenden Fotografengenerationen und sogar die eigenen Gegner beeinflussten. Dabei beschränkte sich Kuratorin Marina Sandmann auf eine Auswahl von Werken, die das Bild Moskaus von den Zwanzigern bis heute festhalten. Es geht um Fotografie und Macht, um den Sowjetstaat und dessen Symbole – also um die Stadt, die nach Lenins Willen zu Bastion und Emblem des russischen Kommunismus wurde. Vier Jahrzehnte lang lieferten der Rote Platz, der Kreml und die Vassilij-Kathedrale Politikern und Fotografen Hintergründe und Schauplätze. Vor der altehrwürdigen Burg defilieren Rodtschenkos „Junge Mädchen mit Tüchern“ (1936) und Schaikhets Kosaken „Zum 7. Jahrestag der Roten Armee“ (1925). 1928 lichtet der LEF-Fotograf Boris Ignatowitsch den Dichter „Wladimir Majakowki auf dem Roten Platz“ ab, am selben Ort knipst Anatoli Jegorow 1940 eine Sportparade junger Frauen mit Stalins Porträt im Anschlag. Von den Türmen des Kreml wird das alte Insigne der Macht (der Doppeladler) abgehängt, an dessen Stelle der Rubinstern gehisst. So liegt das Interesse der Ausstellung vor allem im (kunst)historischen Rückblick.
Leider klafft zwischen 1969 und 1994 eine beträchtliche Lücke. Der Kuratorin, die sich fast nur auf das eigene Engagement stützen konnte, gelang es nicht, fotografische Werke aus dieser Zeitspanne nach Berlin zu holen. Und die Beiträge der drei hier vertretenen Zeitgenossen wirken seltsam schwach und unzeitgemäß im Vergleich zu den Glanzstücken ihrer Vorgänger. Nur Muchin lenkt den Blick auf die Gesichter verhuschter, abgehärmter Demonstranten oder auf die desperate Wut eines jungen Postkommunisten. Borisow begnügt sich damit, weibliche Schönheit an denkwürdigen Orten der Stadt in Szene zu setzen, was wohl einen irgendwie ironischen Hintersinn hat. Melikow lässt gar jede Rücksicht fahren und zeigt die in Reisebüroästhetik fotografierten Moskauer Kultplätze auf neongrell gedrucktem Papier.
Das nennt sich „Schreckliche Schönheit“ – was auch ironisch gemeint ist. Es sind aber nur schreckliche Bilder.
Bis 13. 3. im Russischen Haus für Wissenschaft und Kultur, Friedrichstr. 176, Di.–Fr. 15–19 Uhr, Sa.–So. 14–18 Uhr
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