: Tschetschenen machen mobil
Der Siegestaumel der Russen im eroberten Grosny ist verfrüht. Trotz hoher Verlustebereiten sich die Kämpfer in den Bergen jetzt auf neue Gefechte vor ■ Von Barbara Kerneck
Moskau (taz) – Siegesstimmung herrschte am Sonntag unter den russischen Soldaten, während der amtsführende Präsident Putin die tschetschenische Hauptstadt für befreit erklärte. Allerdings haben die Föderalen keinen Anlass, den Tag vor dem Abend zu loben. Sowohl in den Bergen als auch in den Städten stehen ihnen noch blutige Kämpfe bevor.
Im tschetschetnischen Hochgebirge ist es praktisch unmöglich, einen linearen Frontverlauf zu wahren. Stabile Positionen der Föderalen befinden sich derzeit in der Schlucht von Argun, nahe der georgischen Grenze, und in der zur dagestanischen Grenze verlaufenden Schlucht von Wedeno. Dies sind die beiden einzigen Wege, auf denen sich die tschetschenischen Kämpfer bis Frühlingsbeginn in wärmere Gefilde retten könnten. Hier ist mit massiven Durchbruchsversuchen zu rechnen.
Den Rebellen geht es in ihren Berghöhlen offenbar nicht besonders gut. Davon zeugen Preissteigerungen bei Lebensmitteln und Medikamenten in den dagestanischen Grenzregionen und das Auftauchen von Waffen aus tschetschenischen Reserven auf den Märkten. Den Freischärlern scheint es am Nötigsten zu fehlen, um ihre Wunden auszukurieren.
Inzwischen sind neue Einzelheiten über die Ereignisse um das Dorf Alchan-Khala bekannt geworden, in dessen Nähe Anfang letzter Woche hunderte von tschetschenischen Kämpfern in ein Minenfeld gerieten und ihre Anführer Chunkar Pascha Israpilow, Lecha Dudajew und Aslan Bek Ismailow ums Leben kamen. Dazu sind Videoaufnahmen und Fotos aufgetaucht, die Gerüchte bestätigen, nach denen dort der Anführer Schamil Bassajew schwer verwundet wurde. Die Aufnahmen zeigen, wie Bassajew in der Klinik von Alchan-Khala der rechte Fuß amputiert wird. Nicht zu erkennen ist, ob er, wie es wiederholt hieß, auch ein Auge verloren hat.
Tschetschenische Kämpfer, die den Ausbruch aus Grosny über Alchan-Khala überlebt haben, berichteten inzwischen von ihrer Flucht. „Es war furchtbar, wir gingen über die Körper unserer toten Kameraden, um Minen auszuweichen“, erzählt ein Mann. Die Überlebenden berichten, Bassajew habe die Kommandeure aufgefordert, sich in die erste Reihe zu begeben. Er soll gesagt haben: „Viele Frauen werfen uns vor, dass wir ihre Söhne sterben lassen und selbst am Leben bleiben. Diesmal sollten wir vorausgehen!“
Die Tschetschenen waren von einem russischen Geheimdienstoffizier in diese Falle gelockt worden, der ihnen einen sicheren Fluchtweg gegen Zahlung von 100.000 Dollar versprochen hatte. Bei den Kämpfen um Grosny war es gang und gäbe, dass russische Offiziere Tschetschenen gegen Geld freies Geleit gewährten.
Etwa 300 tschetschenische Gefallene sind dieser Tage um das Minenfeld geborgen worden. Mindestens 1.000 Kämpfer kamen durch und bilden nun eine Verstärkung für ihre Kameraden in den Bergen. Am Sonntag hat Präsident Maschadow alle kampffähigen Männer in Tschetschenien zur Generalmobilmachung aufgerufen. Es ist also wahrscheinlich, dass im Rücken der Föderalen frisch gebackene Rebellen aufstehen und dass sich einzelne Kämpfer aus den Bergen in die Städte zurückschleichen und dort Partisanenheere bilden. Barbara Kerneck
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