In deinen Augen bin ich schön

Nie war es leichter als heute, Ehen zu lösen. Wenn Nichtgefallen, Rückgabe beim Scheidungsrichter. „Verhandlungsmoral“ nennen Sexualforscher das Charakteristikum moderner Beziehungen. Aus den Augen gerät dabei, dass die Liebe sorgsam behütet werden will – und dass Menschen keine Götter sind, die nach Belieben ausgetauscht werden können. Eine Kritik an der Mentalität der Ekstase, am Perfektionswahn und an der Flüchtigkeit der Herzensdinge von Fulbert Steffensky

Wider die Vergötzung der Ekstase. Der Zeitgeist befiehlt mir: Sei jederzeit auf der Spitze deiner eigenen Gefühle! Denn du bist nur, wo du dich fühlst. Du bist nur lebendig in deiner eigenen Unmittelbarkeit. Darum wolle sie und verfolge sie! Und so entsteht eine Erfülltheitssehnsucht, ein Unmittelbarkeitsdiktat, das die Liebe verhindert.

Liebe hat ihren Ort nicht nur in der Ekstase. Ich sage es besser so: Ekstase ist übersetzbar in Unscheinbarkeit und Alltag. Auch wenn zwei zusammen spülen, ist es ein Liebespiel – sozusagen ein Liebesspül. Auch wenn zwei sich abmühen, einander zu ertragen, ist es eine Lesart der Ekstase. Auch wenn einer für die andere kocht, ist das eine Übersetzung des Satzes aus dem Hohen Lied: Seine Wangen sind wie Balsambeete, in denen Gewürzkräuter wachsen.

Die Liebe muss es lernen, die einfachen Dinge zu achten: das Essen, die Arbeit, die Tränen, die Bücher und – wie gesagt: das Spülen. Es gibt eine Ekstase, die nicht nur im erfüllten Augenblick besteht, sondern in der Köstlichkeit der langen Zeit und im Schwarzbrot des Alltags.

Wider die Ganzheitszwänge. Es gibt ein Leiden, das durch überhöhte Erwartungen entsteht; die Erwartung, dass die eigene Ehe vollkommen sei; dass die Partnerin einen vollkommen erfülle; dass ich im Beruf völlig aufgehe; dass die Erziehung der Kinder vollkommen gelingt. So ist das Leben nicht! Die meisten Lieben gelingen halb; man ist meistens nur ein halb guter Vater, eine halb gute Lehrerin, ein halb glücklicher Mensch.

Und das ist viel. Gegen den Totalitätsterror möchte ich die gelungene Halbheit loben. Die Süße und die Schönheit des Lebens liegt nicht im vollkommenen Gelingen und in der Ganzheit. Das Leben ist endlich, nicht nur in dem Sinn, dass wir sterben müssen. Die Endlichkeit liegt im Leben selber; im begrenzten Glück, im begrenzten Gelingen, in der begrenzten Ausgefülltheit. Die Leidenschaft kann sich auch in einem halben Herzen verstecken.

Ich vermute, dass die Ganzheitszwänge zusammenhängen mit dem Schwinden des Glaubens an Gott. Wer an Gott glaubt, braucht nicht Gott zu sein und Gott zu spielen. Wo dieser Glaube zerbricht, da ist dem Menschen die nicht zu tragende Last der Verantwortung für die eigene Ganzheit auferlegt. Mehr als die Totalität, das sind die kleinen Schritte, das halbe Herz, wo das ganze nicht zu haben ist.

Es ist nicht versprochen, dass sich Menschen einander den Himmel auf Erden bereiten. Aber man kann sich Brot sein, manchmal Schwarzbrot und manchmal Weißbrot. Man kann sich Wasser sein und gelegentlich Wein. Und die schwer zu glaubende Einsicht eines alten Mannes: Je älter man miteinander wird, umso mehr wird das Wasser zu Wein. Es gibt ein Alterseheglück und einen gegenseitigen Alterstrost, von dem man nur schwer sprechen kann.

Wider die Beziehungsknauserigkeit. Es gibt Begriffe in der neuen Lebensformendebatte, die ich vom Geist der Kaufmannschaft geprägt finde. Dazu zähle ich das Wort „Verhandlungsmoral“. Da sitzen die Ehekerlchen und zählen sich auf, was sie haben, was sie auszugeben bereit sind und was nicht. Da haben sie notiert, wie oft wer schon die Küche gemacht, eingekauft und das Bad sauber gemacht hat. Jeder sitzt auf seiner Ehepfründe und bewacht seine Rechte, und der Ehefrieden ist ein Tauschgeschäft.

Die Berechnung als Grundlage einer Beziehung ist nicht nur zerstörerisch. Die Schönheit in dieser Haltung ist gestorben. Dagegen nenne ich ein altes Wort und eine alte Sache als Voraussetzung einer Liebe: die Großmut. Wie schön ist die Großmut, die nicht aufzählt und die keine Angst hat, sich selber zu verlieren – immer vorausgesetzt, sie wird nicht einem Liebespartner zudiktiert. Die Alten hatten schöne Wörter für diese Großmut: largitas – die Lebensbreite, magnanimitas – die geistige Weite. Der Geist der Buchhaltung macht die Großmut zu einer Asylantin in unserem Land.

Wider den Götzen Unabhängigkeit. Das Wort Abhängigkeit darf man in Zeiten eines rasenden Individualismus eigentlich nicht mehr in den Mund nehmen. Es gibt ein wundervolles Gedicht der Chilenin Gabriela Mistral, das so beginnt: „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau. / Wenn ich zum Fluss hinuntersteige, / erkennt das hohe Schilf mein sel’ges Angesicht nicht mehr.“ Die letzte Strophe des Gedichts heißt so: „Die Nacht ist da. / Aufs Riedgras fällt der Tau. / Senk lange deinen Blick auf mich. / Umhüll mich zärtlich durch dein Wort. / Schon morgen wird, wenn sie zum Fluss hinuntersteigt, / die du geküsst, / von Schönheit strahlen.“

Es ist eine exzentrische Geliebte, die ihren Mittelpunkt nicht in sich selber hat. Sie begnügt sich nicht mit der Kargheit, mit sich selbst identisch zu sein, denn ihre Schönheit und ihr Reichtum liegen im Blick des Geliebten: „Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön, / schön wie das Riedgras unterm Tau.“ Ihre Schönheit ist nicht selbst produziert, und sie erkennt sie nicht, indem sie in den Spiegel schaut. Sie erkennt sie im Blick des Geliebten.

Unabhängigkeit als Ideal ist die Selbstverdammung zur eigenen Dürftigkeit. Ich muss mein eigener Lebensmeister sein, und mehr als mich selber ist nicht zu haben. Ich muss mein eigener Kraftspender, Lehrer und Tröster sein. Ich muss der Bäcker meiner eigenen Lebensbrote sein.

Es gibt zwei Lebensschönheiten, die eine: Ich selber sein zu dürfen; die andere: nicht nur ich selber sein zu müssen, sondern von der Kraft, dem Trost und dem Reichtum der anderen zu leben. Es ist mehr Spiel im Leben, weniger Zwang, wenn man nicht der dauernde Meister seiner selbst, Erfinder der eigenen Schönheit sein muss; wenn man sich in der Gnade eines anderen Menschen tummeln kann.

Es ist schön und lebenserleichternd, angewiesen zu sein. Es steckt ein Stück Gewaltfreiheit darin, nicht nur auf sich zu setzen. Wenn ich mir nur mich gönne und nicht mehr, dann werte ich zugleich das andere Leben und den anderen Reichtum ab. Ich betone mich und nehme allem anderen den Akzent und die Wichtigkeit. Es ist eine schwere Kunst, bedürftig zu werden, die Kunst der Passivität. Es gehört zu ihr viel Erwachsenheit, vielleicht auch viele Lebensniederlagen, vielleicht auch große Wünsche an das Leben, die einen lehren, dass man sich selber nicht genug ist; die einen ein einfaches und schönes Wort lehren: Ich brauche dich! In deinen Augen bin ich schön!

Wider die Privatheit der Liebe. Meine ganze Sympathie ist bei den Schwulen und Lesben. Sie haben eines verstanden: Dass man auf Dauer nur der ist, der sich zeigen darf. Indem man gesehen und gehört wird, indem man öffentlich wird, bekommt man Gesicht. Menschen können nicht auf Dauer für sich allein existieren und sich zugleich deutlich sein. Indem Liebende sichtbar werden; indem sie sich als Liebende zeigen und Zeugen suchen, bekommen sie Gesicht.

So plädiere ich für die öffentliche Segnung und Trauung aller, die sich lieben. Ich sage es gegen die Kirchenleitungen, die beide Augen zudrücken, so lange man ihnen die gleichgeschlechtliche Praxis von Menschen nicht unter die Nase reibt. Ich sage es aber auch gegen die, die die Trauung ablehnen und die auf der Privatheit ihrer Beziehungen bestehen.

Natürlich leben wir nicht mehr in alten Zeiten, in denen Menschen nur dann zusammenkommen und zusammen leben, wenn sie miteinander verheiratet sind. Wir leben in weniger konturierten Zeiten, in denen mit dem Experiment der Erprobung, der langsameren Deutlichkeit einer Beziehung zu rechnen ist. Aber zugleich muss man die jungen Leute warnen, in der Undeutlichkeit und der reinen Privatheit zu ersticken.

Wider die Selbstgenügsamkeit der Liebenden. Die katholische Ehelehre behauptet, eine Ehe käme nicht zustande, wenn das Paar keine Kinder wolle. Das mag biologistisch sein. Aber es ist zugleich eine Art verdrehter Weisheit. Man kann auf Dauer nur zusammen leben, wenn man mehr will als sich selber; wenn man mehr Lebensabsichten hat als die selbstgenügsame Zweisamkeit. Es müssen ja nicht leibliche Kinder sein. Man kann Lebensfantasien und Optionen teilen; man kann Projekte adoptieren. Wenn Menschen, die sich lieben, keinen anderen Blick haben als den in die eigenen Augen, dann verkommen sie.

Mit sich allein sind die Liebenden immer in schlechter Gesellschaft. Wir kennen die trostlose Komik einer Ehe, in der zwei sich immer ähnlicher werden, weil sie nur sich selber kennen. Sie werden sich gleich wie zwei Möpse. So ist der eine nicht mehr die Ergänzung des anderen, sondern sie verdoppeln sich.

Ein Haus ist erst dann ein Haus, wenn viele darin wohnen, essen und lachen und weinen. Das gilt auch für das Ehehaus. Wir leben in anderen Zeiten. In der alten Dorfehe kannte das Paar nur wenige Menschen näher, es waren meistens Verwandte. Auch Freundschaften existierten, wenn es sie überhaupt gab, innerhalb der Verwandtschaften. Das ist heute anders: Die Partner leben in vielfältigen Beziehungen, sie haben oft verschiedene Berufe, damit Lebenswelten, die sich nur zum Teil überschneiden. Man muss sich nicht mehr alles sein.

Das ist eine Entlastung und eine Bereicherung der Ehe. Die alte Ausschließlichkeit steht damit auf dem Spiel, auch die alte sexuelle Ausschließlichkeit, sofern es sie je gegeben hat. Das heißt mehr Lebendigkeit, nicht unter allen Umständen, aber vielleicht. Es heißt sicher mehr Schmerzen, mehr Verwirrung und mehr Schutzlosigkeit. Man kann den Wunden nicht entgehen, wenn man leben will.

Wenn wir nur an unsere Kinder denken! Wir sind nicht dazu da, uns selbst zu erfüllen. Und die Ehe ist doch wohl die Form, die unsere Kinder am meisten behütet. Mir ist dabei gleich, ob es eine gleichgeschlechtliche oder verschiedengeschlechtliche ist. Darüber wird in der Kirche viel gestritten. Für die säkulare Welt ist dies alles keine Frage mehr. Es ist alles so selbstverständlich, dass sich kaum jemand wundert, wenn sich Bekannte scheiden lassen; wenn sie andere Formen als die der Ehe leben, oder wenn sie sich als homosexuell bekennen.

Ich misstraue auch dieser Selbstverständlichkeit und frage mich, ob es nicht eine Form der Lebensgleichgültigkeit ist. Aber damit ist der Liebe nicht gedient.

Fulbert Steffensky, 66, emeritierter Professor für Religionspädagogik an der Uni Hamburg, trug diesen (hier gekürzten) Text („Der unerwartete Preis der Freiheit“) im vergangenen Jahr auf dem Evangelischen Kirchentag in Stuttgart vor. Jüngstes Buch: „Das Haus, das die Träume verwaltet“. Echter, Würzburg 1998, 170 Seiten, 29 Mark. Seine Lieblingsblume ist die Pfingstrose