Angst vor den Volksfeinden

Sibirien als Geschichtslandschaft: In „Sieben Lieder aus der Tundra“ (Forum) erzählen Anastasia Lapsui und der Finne Markku Lehmuskallio vom Leben der Nenzen in nördlicher Schneelandschaft ■ Von Helmut Höge

Die Nenzen, früher Samojeden genannt, sind ein im Nordwesten Russlands sesshaft gewordenes Nomadenvolk. Die Nenzin Anastasia Lapsui und der Finne Markku Lehmuskallio haben schon viele Filme über ihre arktische Heimat zusammen gedreht. Zuletzt lief in der Forum-Reihe: „Uhri – Das Opfer“ – ein Dokumentarfilm über die Selkupen, die in der sibirischen Taiga jagen. Für die Regisseurin, deren Volk in der nahezu baumlosen Tundra lebt, ist der Wald „beunruhigend und unheimlich“ – und vieles war ihr bei den Selkupen unverständlich.

In ihrem neuen Film nun – „Seitsemän Laulua Tundralta“, „Sieben Lieder aus der Tundra“ –, der halb Dokumentar- und halb Spielfilm ist, sind viele ihrer eigenen Erfahrungen und Erinnerungen eingeflossen. Sie schrieb auch das Drehbuch. Markku Lehmuskallio merkte dazu an: „Die Nenzen haben keine professionellen Schauspieler, nur einfache Leute – Nomaden, Jäger und Fischer. Sie stellten uns ihre Zelte, ihre Rentiere, Boote und vor allem sich selbst und ihre Zeit zur Verfü- gung ... Die Rolle des obersten Landwirts wurde vom obersten Landwirt gespielt, die des Lehrers von einem Lehrer – alle spielten sich selbst.“

So erzählt der Film die Geschichte ihrer Familien, ihre eigene Geschichte. Anastasia Lapsui erinnert sich an die Geschichte einer Sandbank im Fluss, wo noch heute einige Erdhöhlen und die Überreste eines Hauses zu sehen sind: Dort arbeitete bis zum Ende der Stalinzeit eine Frauen-Fischerbrigade. Sie galten als „Feinde des Volkes“ und kamen aus allen Republiken. Ihr Lager grenzte an die Hütte der Familie Lapsui. Sie fischten unmittelbar nebeneinander, hatten aber keinen Kontakt: Die Nenzen hatten Angst vor den so genannten Volksfeinden. Ein blondes junges Mädchen kam jedoch regelmäßig zu ihrer Hütte und setzte sich neben die Eingangstür. Sie schaute den Nenzen bei der Arbeit zu und weinte leise.

Diese ebenso schöne wie traurige Geschichte kommt jedoch in den „Sieben Liedern aus der Tundra“ nicht vor, obwohl der Film bis zur Kollektivierung der Landwirtschaft zurückreicht. Die Gesichter der Beteiligten sind eindrucksvoll, noch mehr die kargen Schwarzweiß-Szenen in der Schneelandschaft, die sich stets bis an den Horizont erstreckt – und der man anscheinend nur mit einem bis zum Äußersten konzentrierten Minimalismus gewachsen ist.

Die Kehrseite davon ist, dass dadurch die Gesamtgeschichte etwas Holzschnittartiges bekommt – insbesondere dann, wenn die Großgeschichte in die Lebensgeschichten der Einzelnen hineinspielt, sie bestimmt. Im Falle der Nenzen ist das: die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Vernichtung der Kulaken, der Große Vaterländische Krieg, den einige von ihnen als Soldaten an der Leningrader Front erlebten, die Planerfüllungs-Zwänge ihrer Kolchose, die Verkörperung der Macht vor Ort sowie die Alphabetisierungskampagne, die für die jungen Nenzen eine Trennung von ihren Eltern bedeutet, da man sie in Internaten konzentriert.

Durch das Komprimieren dieser komplexen Großereignisse auf kurze Szenen bekommt der Film in seinen inszenierten Passagen etwas dumpf Antikommunistisches – dieses Märchenhafte tut ihm nicht gut. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass die Regisseurin an einige dieser Ereignisse eine viel schärfere Erinnerung hat.„Seitsemän Laulua Tundralta“. Regie: Anastasia Lapsui und Markku LehmuskallioHeute, 19.45 Uhr CineStar8; 13. 2., 14.45 Uhr, Arsenal; 14. 2., 21.30 Uhr, Babylon