: Zurück zu den Drohnen
Wie schön sind Geschlechtsorgane? Matthew Barney zeigt mit „Cremaster 2“ ein sexuell aufgeladenes Ballett voller Körperornamente (Panorama) ■ Von Diedrich Diederichsen
Matthew Barney hat sich immer dafür interessiert, den ästhetischen Grundbegriffen zu folgen, ganz nahe an die reine Begrifflichkeit heran, um sie dann wieder ganz dicht und stofflich werden zu lassen. Das Erhabene und das Ornamentale werden so weit auf einen allgemeinen Begriff gebracht, bis sie konkret ins Psychotrope oder Sexuelle umklappen. Unmögliche Kanäle und Tunnel, extreme Engen und Weiten; dazu Schleim, Klebe, Filz, Milch, Salz.
Die alte Freudsche Frage an die Ästhetik – wie kommt es, dass die Geschlechtsorgane nicht schön sind? – beantwortet Barney auf zweierlei Art: Entweder erfindet er neue Geschlechtsorgane, die in ein ornamentales Körper- und Zimmerarrangement passen. Oder er zeigt die Schönheit der schon bekannten an Gegenständen aus Natur und Kultur, die ihnen ähneln. Barneys „Cremaster“-Reihe ist nun bis auf einen Film abgeschlossen. Dieser vorletzte, Cremaster 2“, ist der bisher aufwendigste, längste und auch der, der, entlang der Forschungen zum Ursprung der Ästhetik im Spannungsfeld aus Psychedelia und Erotik, ein semantisches Feld eröffnet, das deutlich denotativer und geschichtenähnlicher ausgefallen ist als in allen bisherigen Cremasters.
Die Geschichte des ersten in den USA, und zwar im Staat Utah, wieder hingerichteten Mörders Gary Gilmore und seiner Familie wird angedeutet. Sein Verbrechen, der Mord an einem Tankwart, für Barneys Verhältnisse relativ straight erzählt. Besonders unglaublich ist ein nun wieder auf dem Gipfel zeremonieller Ornamentik gehaltenes Rodeo auf dem Großen Salzsee, das man als Allegorie auf den elektrischen Stuhl verstehen kann. Doch der echte Gilmore wurde von einem Erschießungskommando hingerichtet, sein Vater Frank Gilmore aber war ein Rodeo-Reiter und Cowboy-Darsteller.
Gilmores Biograf Norman Mailer wiederum ( The Executioner’s Song“) spielt den Entfesselungskünstler Houdini. Es gehörte zur Familienmythologie der Gilmores, dass die Großmutter von Gary, Franks Mutter Fay La Foe, die als Medium auftrat und öffentliche Séancen veranstaltete, ein Verhältnis mit Houdini gehabt haben soll. Garys Mutter soll wiederum während ihrer ganzen Kindheit regelmäßig zu Hinrichtungen gebracht worden sein. Die Mormonen-Obsession einer homogenen Gemeinschaft von Gläubigen, die gleichzeitig das Staatsvolk stellt, wird in Barneys Film von den vielfältigen Bezügen auf Bienenvölker übernommen. Wabenmuster strukturieren die merkwürdig psychotropen Innenräume und wiederholen sich im Großen.
Das Summen („Drone“) wird zum musikalischen Prinzip. Es schwillt an zu den großen Chören, die man von den Mormonen – wie von Ligeti („Lux Aeterna“) – kennt und deren monumentale Inszenierungen wiederum überführt werden in die ornamentalen Bildkaskaden, die ins Abstrakte anschwellen, um dann wieder von einem körperlichen Detail aufgenommen zu werden. Zum ersten Mal bei Barney werden entscheidende Konstellationen auch ausgesprochen. Fay La Foe fragt Houdini, ob ihm die physische Metamorphose genüge und ob nicht mehr für ihn vorstellbar wäre, als immer nur wieder nach einer Performance ins Bienenvolk zurückzukehren, zu den Drohnen. Und Houdini, der „Self-Liberator“ entgegnet, dass auch seine Art der Verwandlung eine metaphysische sei; schließlich verwandle er sich in das Gefängnis, das ihn gefangen halte. Schon immer war Barney ein Meister der Nebengeräusche, der Summ- und Dröhntöne spezifischer Innenräume. Mit „Cremaster“ arbeitet er entschieden im Kunstkontext, um den Raum für abstrakte Ausgangspunkte zu haben, die ein Spielfilm nicht zuließe. Sein Produzent ist seine Galeristin, das Publikum war zu 98 Prozent soziologisch in der Kunstszene angesiedelt.„Cremaster 2“. Regie: Matthew Barney. Mit Norman Mailer, Matthew Barney, USA, 79 Min. Heute, 22.45 Uhr, Cinemaxx 8.
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