Männliche Regungen im Klassenzimmer

■ Das Cechov-Ensemble überzeugt mit seinem Wedekind-Projekt „Das Erdgeist Gedächtnis“ im Studio 13

Es gibt wohl nicht viele Theaterensembles, die ihr Publikum bis zu Beginn der Aufführung auf der Straße stehen lassen. Das Cechov-Ensemble ist so eines: Seine Spielstätte, das Studio 13 im Breitenweg, verfügt nicht einmal über eine Bühne, geschweige denn ein Foyer – Publikum und Schauspieler füllen einen Raum, der in seiner Größe als Klassenzimmer durchgehen könnte. Nicht einmal für einen Vorhang ist genügend Platz vorhanden. So ist bereits bei Betreten des Raumes für jeden Besucher sichtbar, wie alle Darsteller ihre Anfangspositionen eingenommen haben. Nüchtern fragt dann der künstlerische Leiter Markus Herlyn: „So, fangen wir an?“ Und sie fangen an. Mit Wedekind...

Dessen Tragödie „Frühlings Erwachen“ ist derzeit auch im Oldenburger Staatstheater zu sehen. Hinsichtlich schauspielerischer und inszenatorischer Leistungen aber erweist sich das in seinen finanziellen Möglichkeiten so begrenzte Hinterhofensemble als dem großen Haus überlegen.

Das Cechov-Ensemble – 1997 aus der Ausbildungsstätte für Schauspieler Studio 13 hervorgegangen – möchte sich mit der Wedekind-Produktion „Das Erdgeist Gedächtnis“ als professionelle Theatergruppe etablieren. Das Projekt ist eine eigene Komposition des Ensembles, das Wedekinds Material mutig und beherzt, doch mit Achtung vor dem Autor neu zusammensetzt. Die Collage aus den beiden Tragödien „Der Erdgeist“ und „Frühlings Erwachen“ verdeutlicht die Handschrift des Frank Wedekind: Die Auswirkungen der Sexualität auf die Menschen, Eros als eine „göttliche Energie“, die sowohl erhält, als auch zerstört – Themen, die elementar für Wedekinds Schaffen sind. Eine derartige Bearbeitung setzt allerdings die Kenntnis des Zuschauers von den einzelnen Werken voraus. Denn eine zusammenhängende dramatische Handlung ist hier kaum zu erkennen. Zu unvermittelt lässt das Ensemble die Schauplätze, die Figuren und deren Verhaltensweisen variieren. So tauschen die neun DarstellerInnen wiederholt die Rollen, bis die Verwirrung vollständig ist und eine Identifikation mit den Figuren nicht mehr stattfinden kann. Bald wird jeder Auftritt nur noch als einzelne Szene ohne Bezug zur vorhergehenden Handlung gesehen. Nur wer beispielsweise weiß, dass Melchiors Begegnung mit Lulu eigentlich die mit der Figur Wendla aus „Frühlings Erwachen“ ist, erkennt die dargestellte Austauschmöglichkeit beider Figuren.

Doch auch wer nicht über die verarbeiteten Werke unterrichtet ist, wird durch beachtliche schauspielerische Leistungen und raffinierte Inszenierungen einzelner Szenen belohnt. So wird der Aufklärungsdialog der pubertierenden Schüler Moritz und Melchior aus „Frühlings Erwachen“ immer wieder gekonnt und unerwartet parodiert. Zu Beginn der Aufführung findet die Unterhaltung („Hast du sie schon empfunden?“ – „Was?“ – „Männliche Regungen!“) ganz klassisch zwischen den Jugendlichen Moritz und Melchior statt. Die Szene ist längst vergangen, da erklingt unvermittelt eine Harmonika. „Spiel mir das Lied vom Tod“ schallt durch den Raum, der sich sogleich verdunkelt, und zwei weibliche Cowboys betreten die Fläche. Mit der Hand am Revolver gegenüberstehend, zum Duell bereit, befragen sie sich mit Leichenbittermiene über ihre männlichen Regungen. Wieder nur wenige Szenen später schleicht sich eine in ihren Mantel gehüllte, schwarze Gestalt herum. „Pink Panther“ spielt ein Mann am Klavier. Leise fragt sie eine, sich vielsagend an einen Pfosten lehnende Dame: „Hast du sie schon empfunden ...?“

Es sind Parodien, die bei schlechter Darstellung Gefahr laufen, peinlich zu wirken. Doch die Schauspieler des Cechov-Ensembles überzeugen in jeder Hinsicht, nicht allein in parodistischer Funktion. Wolfgang Nawrot, zeitweise Darsteller des Malers Schwarz („Erdgeist“-Figur) vermittelt dem Zuschauer eindrucksvoll dessen seelisches Leid, als er erst von Dr. Schön (hier dargestellt von Rainer Pabst) erfährt, dass seine Frau Lulu keineswegs unberührt in die Ehe ging. Mit entsetzten, irren Blicken geht er Schön an die Gurgel, dass einem beim Zuschauen ganz bange wird, lässt dann seine Wut ihm gegenüber abflauen, nur um sie gegen sich selbst zu richten: Eine beeindruckende und glaubhaft wirkende Selbstzerfleischung. Besonders bemerkenswert ist eine solche Leistung angesichts der, aufgrund fluktuierender Rollenverteilung fehlenden Identifikation mit der Figur.

Eine rundum erfreuliche Veranstaltung also findet in der unscheinbaren Kammer des Breitenwegs 13 statt. Allein die spärliche Kulisse von zehn Besuchern dürfte das Cechov-Ensemble als nicht sonderlich erfreulich ansehen ...

Johannes Bruggaier

Die Produktion „Das Erdgeist Gedächtnis“ ist am 9.,10.,11. und 12. März um 19.30 Uhr im Studio 13 zu sehen. Karten und Infos unter Tel.: 70 23 54