Weder Biesenmann noch Peybach
Die Children of Berlin machen aus den Resten der guten alten Subkultur einen sexy Exportartikel, und am Berliner Ensemble kritisiert man noch einmal auf Staatskosten den Kapitalismus. Eine Stadt, zwei Modelle – darf man mehr verlangen? ■ Von Diedrich Diederichsen
Welchen Begriff haben die, die in dieser Stadt das Geld ausgeben, eigentlich von „kulturellem Erfolg“?
Vor kurzem berichtete die FAZ-US-Korrespondentin Verena Lueken über eine neue „kulturelle Blüte“ in Los Angeles. In der bildenden Kunst ist das ja nichts Neues, nun drängeln sich die Leute dort aber auch zu tausenden in Lesungen von nicht so rasend aktuellen Beatnik-Lyrikern wie Lawrence Ferlinghetti. Dies führte mich zu der Frage, was man eigentlich aus der Binnenperspektive heute und hier eine „kulturelle Blüte“ nennen würde, welchen Begriff man davon hat, was kulturpolitisch wünschenswert ist.
Doch natürlich trat gegen Ende des Textes ein Spielverderber auf. Es war der unvermeidliche Mike Davis, der den Kulturboom als einen Nebeneffekt des Immobiliengeschäfts beschrieb: alles nichts als Standortpolitik, jede enthusiastische, ausverkaufte Lyriklesung nichts als ein unmittelbar von Maklerkohle abhängiges, künstliches, gekauftes Scheinereignis, ein Koeffizient deiner nächsten Mieterhöhung!
Natürlich hat Davis Recht. Und auch gleichzeitig Unrecht. Natürlich ist fast jede Kulturpolitik heutzutage Standortpolitik, und natürlich ist es oft nur noch ein kleiner Unterschied, ob man unmittelbar von Maklerkohle abhängig ist oder mittelbar, nämlich von einer staatlichen Kulturpolitik, die es Maklern und Investoren recht machen möchte. Aber noch kann man an staatliche Kulturpolitik Forderungen richten – auch wenn man noch so wenig Chancen hat, gehört zu werden. Nach ihrem eigenen Verständnis muss sie zuhören oder so tun als ob. Vielleicht lässt sich das sogar propagandistisch nutzen, denn Kulturpolitik ist eine ziemlich einfache Sache: Es geht in erster Linie um das Ausgeben von Geld nach bestimmten Prioritäten.
Um diese Prioritäten kann man eine Diskussion führen, die, von einigen Ursache-Wirkung-Unschärfen abgesehen (die gleiche Menge Geld hat nicht überall die gleiche Menge Wirkung, auch wenn man sich über die gleiche Wichtigkeit der Orte, an denen man sie ausgeben könnte, einig wäre), sich direkt auf eine Grundwertediskussion übertragen lassen müsste. Welchen Begriff haben die, die das Geld ausgeben, wenn sie es standortpolitisch ausgeben, von „kulturellem Erfolg“, welchen habe ich im Gegensatz dazu? Kann ich ihnen diese Debatte nicht wenigstens aufzwingen?
Gerade in den Bereichen bildende Kunst und Theater, wo Kulturpolitik und ihre Käuflichkeit eine wichtigere Rolle spielen als in wegen in geringerem Maße bedeutenden Produktionskosten „autonomeren“ Segmenten wie Literatur, manchen Formen der Musik und der Netzkultur, werden aber zurzeit in Berlin neuere Modelle ausprobiert, deren Ideologie man benennen und zur Diskussion stellen könnte.
Einerseits das Modell Biesenbach/Children of Berlin, andererseits das Modell Peymann/Berliner Ensemble. Interessanterweise sind beide auch nur darüber zu verstehen, dass man sie aufeinander bezieht. In beiden geht es nicht nur darum, ein vages Symbol für kulturellen Reichtum zu errichten, sondern sehr konkrete ideologische Stiftungen, die mit der Stadt und Hauptstadt Berlin verbunden bleiben sollen.
Bei Biesenbach geht es um ein Modell, das die lokal-bodenständigen Subkulturen des Kunstbereichs und einige aus anderen deutschen oder internationalen Städten importierte KünstlerInnen zu einem berlinspezifischen Typus fusioniert, den man erst in der Stadt und nun über ihr immer schon erträumtes Spiegelbild New York lanciert. Wichtig an diesem Modell ist, dass es verschiedene und wohl definierte Komponenten verbindet: zum einen eine Berlin-Mitte-spezifische, historisch gewachsene Szene, die politisiert, technologieinteressiert und subkulturell geprägt im Bereich der bildenden Kunst gearbeitet hat; zum anderen eine internationale Szene, die mit dieser Szene eine gewisse Familienähnlichkeit aufwies, aber vor allem deutlich weniger politisiert war.
In der Verschmelzung beider Szenen über verschiedene Stadien der späten 90er wurden der Look und Reste subkultureller Verankerung und Organisationsformen erhalten, gleichzeitig wurde die oppositionelle Politisierung auf verschiedene Weise entsorgt oder nivelliert: entweder ästhetisch und inszenatorisch entwertet oder unterbetont. Oder aber durch Ausschluss und Nichtberücksichtigung derer, die für bestimmte politische Position stehen. Beziehungsweise durch das Stellen von Bedingungen, die eine Teilnahme unmöglich machten.
Dieses Modell einer politisch zahnlosen, aber restsexy Subkultur als Exportartikel und Imagefaktor der Stadt Berlin ist keine Erfindung raffinierter Miethaie und Immobilienspekulanten. Es ist auch keine Teufelei des bösen Biesenbachs. Hier haben wir es eher mit einer erwünschten Synergie von Faktoren zu tun, die erst makrostrukturell einen Sinn ergeben. Denn hier entscheidet eher die Schwerkraft des Erwünschten, des in letzter Instanz natürlich schon auch ökonomisch Erwünschten – aber dazu bedarf es keiner speziellen Charaktere. Im Gegenteil: Vielleicht scheitert Biesenbach jetzt als Modellfigur sogar genau daran, dass er im Laufe der Zeit doch zu sehr Person im alten Sinne und damit Angriffsfläche wurde. Denn es geht ja eigentlich eher darum, einen kulturpolitischen Vorgang jenseits der Kontingenzen des alten Individuellen (Eigensinn, Eitelkeit) durchzuziehen, statt entlang der neuen systematisierbaren Differenzen der neuen Individuen (distanzierte Geschmeidigkeit, ironische Einsicht) zu operieren.
Ein unübersichtliches Kulturträger-Milieu wie die langsam erwachsen werdende Berliner Sub/Kunst-Szene muss heuzutage – unabhängig von personenbezogenen Modellen – an eine aufstrebende Metropole gebunden werden, nicht nur weil diese Leute selber zahlungskräftig sind oder weil sie als Opinion-Leader und Mulitplikatoren Investorenhunde hinter den Öfen des Dax hervorlocken könnten, sondern weil sie auch selber als lebende Ideologie durch die Stadt rennen und in vielerlei diskursiven Schleifen selber alle möglichen Entscheidungen der Stadt legitimieren.
Jede Höflichkeit des Potsdamer Platzes, jede Investition auf der Ebene von Multiplexkinos braucht eine feine, reiche, aber eben auch subkulturell legitimierte ästhetische Nachbar-Welt, zu der sie die nächstprolligere, aber eben in unmittelbarem Kontakt zur nächstfeineren Innovationssphäre entstandene Innovation sein darf und will. Subkulturelles und jugendkulturelles Unterscheidungsvermögen sind zwar fast vollständig von jedem kritischen Diskurs abgekoppelt, nicht aber von jedem Differenzen setzenden Code, im Gegenteil, absolut im Gegenteil. Mit dieser durchaus eher noch gewachsenen Fähigkeit zur Differenzierung arbeiten die Modelle, die Subkulturen, gerade im Bereich bildende Kunst und dem in immer engere Nachbarschaft rutschenden Gebiet der Mode, an Berlin so binden wollen, wie es andere Städte – ewiges Vorbild: London – längst geschafft haben.
Aber diese Fähigkeit zur Wahrnehmung solcher Differenzierung und vor allem die Bereitschaft, die Autorität der ursprünglichen Setzung solcher immer feineren Unterschiede anzuerkennen, ist immer noch – sowohl genealogisch wie tiefenstrukturell – mit ursprünglich kritisch oder politisch oder strategisch motivierten Setzungen verbunden. Noch heute wird deren manchmal 20, 30 Jahre alte Autorität beliehen, ohne die inhaltlichen Verbindungen überhaupt noch bewusst zu ahnen.
Diese Verbindungen dürfen aber auch nicht aufscheinen, weil dann etwas durcheinander gehen könnte. Sie dürfen zwar jederzeit in klar als kommerziell gezeichneten Gefilden wie einer Benetton-Kampagne sich zu Wort melden, aber bitte nicht unter uns Partnern für Berlin in einer Biesenbach-Broschüre. Dieses Modell muss sich, gerade weil es subkutan noch immer mit politisierter Kunst verbunden ist, seine nonpolitical credibility erst noch ratifzieren lassen. Es muss sie überbetonen, die Spaß-, Szene-, Ästhetik-, Nonmiesmacher-, Theorie-is-over-Dimension, das Hotel B-Adlon, y’all. Es kann sich dabei als Ersatz für die alte Politik auf eine neue Szene-Ethik verlassen, die kleine Unternehmen und Klitschen, Existenzgründer und Erben mit einem gut durchgenudelten und bis zur Inhaltslosigkeit ausgeleierten Deleuze/Guattari-Vokabular zu rhizomatischen Netzeknüpfern hochjazzt, Kleinkapitalismus und Kriegsmaschine zusammenleimt und so die formal noch aus alten Gegenkulturen kommenden kommerziellen Szenen auch inhaltlich mit Worten des Widerstands aus dem ausgehenden 20. Jahrhundert in Verbindung bringt.
Um so leichter ist es, dem nun wieder ein Gegenmodell entgegenzusetzen, das erstens subkulturfrei („Kein Pop und HipHop!“), zweitens in einem ganz alten Sinne und darüber hinaus auch nur homöopathisch politisch und drittens unkommerziell, weil öffentlich überfinanziert ist: das Modell Peymann/BE. Hier formuliert die Stadt Berlin ihr zweites Angebot, denn von vorübergehend reich gewordenen Jungerwachsenen und ihrem Futurismus allein lässt sich vieles rechtfertigen und an sie vieles verkaufen, aber die Stadt will nicht nur Standort sein, sie muss auch Hauptstadt sein, und dafür muss sie Staat machen.
Peymanns Intendanz ist da ein symbolischer Glücksfall: Er steht für ein Verständnis von Politik und Kritik („Reißzahn im Regierungsviertel“), das aus der Schule und der Zeit von Günter Grass und Dieter Hildebrandt kommt. Bei ihm können auch kritische Wahrheiten über längst Unstrittiges sich so unbestochen aufführen, wie es sein rekonstruiertes bürgerliches Theaterpublikum nun wiederum für sein kulturelles Selbstverständnis braucht. Hinter vorgehaltener Hand soll man Konrad Adenauer hier durchaus einen Spießer nennen können. Peymann produziert eine erkennbar ganz und gar andere Welt als das Modell Biesenbach, ja eine Gegenwelt auf mehr als einer Achse. Mit ihm lässt sich noch einmal die Opposition staatlich finanzierte kritische Kunst gegen kapitalistische Kulturindustrie simulieren.
Natürlich ist diese kritische Kultur ein Gespenst. Ein mit alten Formen operierendes, sauber gehaltenes Theater benennt die Widersprüche der Fünfzigerjahre, während die aktuellen Verhältnissse den ganzen Weg zur Bank über lachen. Mit Benennen wäre es ja auch nicht getan. Aber die ästhetischen Mittel, die zur Auseinandersetzung mit den aktuellen Verhältnissen taugen würden, werden ja anderswo gebraucht und versaubeutelt.
Was sich aber kulturpolitisch abzeichnet, ist eine weitere Station der Entkoppelung ästhetischer Kompetenz von kritischer. Kritik wird in der Opi-Welt des Opi-Theaters stillgestellt, ästhetische Kompetenz zur hohlen und tautologischen Unterscheidungsfähigkeit reduziert, die die Formen Verhältnissen und Geschichte nicht mehr zuordnen kann. Der alte trotzkistische Slogan aus dem Kalten Krieg, „Weder Washington noch Moskau“, erschien mir immer schon als apolitische Ausrede suspekt, wiewohl ich zu seiner Alternativlosigkeit auch keine Alternative wusste. Das geht nun seit „Weder Pahlevi noch Chomeini“ über „Weder Milošević noch Nato“ immer so weiter und bleibt auch als „Weder Biesenmann noch Peybach“ in unserer kleinen Welt unbefriedigend. In der Regel gibt es ein kleineres Übel – vielleicht heißt es Biesenbach?
Konkrete kulturelle Praxis in Berlin kommt natürlich in vielen Fällen ohne diese schlechte Alternative aus. Doch was fehlt, sind aus solchen anderen Praxen formulierte kulturpolitische Forderungen, die sich gegen diese beiden Modelle richten. Dafür bedarf es aber einer Idee des angestrebten „kulturellen Erfolgs“, die sich nicht auf die zähen Kleingeländegewinne an den unmittelbaren Konfrontationslinien beschränkt noch die Idee einer ästhetischen Kompetenz nur deswegen aufgibt, weil die zurzeit als reine Unterscheidungsfähigkeit viel Leerlauf produziert. Denn das ist ja nicht einmal Ästhetizismus. Was – so muss daher die Frage lauten – wäre ein kultureller Erfolg jenseits von Standortverbesserung oder Rekonstruktion alter Hierarchien im Namen von Bürgerlichkeit?