: „Der Krüppel macht das Tor“
Sie haben Arthrose, Knieprothesen und können kaum noch laufen: Hunderte Ex-Profis sind Invaliden durch Cortison. In England wollen sie ihre Vereine verklagen ■ Von Ronald Reng
Liverpool (taz) – Weiche Knie hat Geoff Strong mit 62 nicht mehr. Die seinen sind aus Stahl, aus Beton und Plastik: Vor drei Jahren wurden dem ehemaligen Fußballprofi des englischen Rekordmeisters FC Liverpool Prothesen eingesetzt. Arthrose hatte die Gelenke verschlissen. Trotzdem ist er unlängst wieder Mitglied eines Fußballteams geworden. Es ist eine Elf, die niemals spielen wird: Arthrose Athletic.
Unter diesem Namen haben sich englische Ex-Profis zusammengeschlossen, denen aus der Berufszeit irreparable Schäden geblieben sind. Sie wollen rechtliche Schritte gegen ihre alten Vereine unternehmen, weil diese ihrer medizinischen Fürsorgepflicht nicht gerecht geworden seien. Hunderte von einstigen Profis leiden heute an Arthrose, schätzt die Gewerkschaft britischer Berufsfußballer; ihre Hüften, Knöchel und vor allem Knie zerstört vom Cortison, vielen viel zu oft als Schmerz stillendes Mittel gespritzt.
Auch in Deutschland sei Arthrose bei Fußballern „alltäglich“, sagt Erich Rembeck, Arzt des Bundesligisten 1860 München. Vom Bremer Klaus Allofs (heute 43) über den Mönchengladbacher Rainer Bonhof (47) bis zum Karlsruher Rainer Ulrich (50) reicht die Reihe derer, die nicht mehr richtig gehen können. Wobei Rembeck sagt, man müsse differenzieren: Veranlagung, extreme Trainingsbelastung, nicht auskurierte Verletzungen, Fitspritzen mit Cortison sowie ständige Operationen könnten Gründe für Arthrose sein – oft ist es der Cocktail aus allen.
Das entzündungshemmende Cortison – bei längerer Anwendung schädlich, da die Zellproduktion in den Gelenken gestoppt wird – sei vor allem in den 60ern und 70ern „exzessiv missbraucht“ worden, um Verletzte kurzzeitig fit zu kriegen, sagt Rembeck. Seit Ende der 80er wurde zudem die Kniespiegelung als vermeintliches Allheilmittel überstrapaziert, „beim kleinsten Zwicken wurde sofort das Knie aufgeschnitten und reingeguckt“. Manchmal konnte der Patient schon nach sieben Tagen wieder spielen; so eine Kniespiegelung ist ja nur ein kleiner Eingriff. Dass das Knie nach drei oder vier solch vermeintlich harmloser Operationen instabil wird, „darüber wundern sich gewisse Ärzte dann ein paar Jahre später, wenn der Junge mit Arthrose im Wartezimmer sitzt“, sagt Erich Rembeck.
Geoff Strong hat die volle Behandlung bekommen: mindestens 80 Cortison-Injektionen in zehn Jahren in Knie, Schultern und Knöchel, schätzt er, zum Teil über Monate eine Dosis vor jedem Spiel: „Ich habe nie nachgefragt, was die Ärzte in mich pumpten.“
Als bei ihm 1966 im Europacup-Halbfinale gegen Celtic Glasgow nach 25 Spielminuten der Meniskus riss, wurde er herausgeschnitten – aber erst mal bestritt Strong das Spiel zu Ende. Er konnte zwar nicht mehr laufen, aber in der Halbzeit zurrte ihm ein Betreuer das instabile Knie mit einem Seil fest. Strong sollte in Celtics Strafraum herumhumpeln; vielleicht bekomme er ja eine Kopfballchance. „Beim Abpfiff war mein Bein schwarz.“ Das Seil hatte die Durchblutung fast gänzlich gestoppt.
Es war halt die Zeit, sagt Strong. Unkritisch habe man an die Parole geglaubt: „Blut und Donner – gelobt sei, was hart macht.“ In Deutschland sei das sicher anders gewesen, glaubt er, aber da muss ihn der Frankfurter Bernd Hölzenbein enttäuschen: „Bei Verletzungen wurde nicht lange gefragt, da hieß es: Nadel rein, Doktor.“ Hölzenbein, von Folgeschäden verschont, „will ja nicht vom Thema ablenken, aber damals wurden noch ganz andere Sachen bis zum Abwinken genommen.“ Was meinen Sie? „Na ja, es gab keine Dopingkontrollen.“ Aber Aufputschmittel? „Ich nenne keine Namen. Man ging schon mal zum Arzneischrank und bediente sich selbst.“
Und heute? Die Fußballer, stellt Arzt Rembeck fest, hätten ein „besseres Gesundheitsbewusstsein“ entwickelt. Und die Medizin hat sich so weiter entwickelt, dass nicht mehr jeder Gelenkverletzung gleich Cortison-Behandlungen oder Kniespiegelung folgen müssen. Doch ein Mechanismus ist gleich geblieben: Ein verletzter Profi will am Samstag unbedingt spielen, weil Meisterschaft, Jahresleistungsprämie, Stammplatz auf dem Spiel stehen. „Da wirst du von den Spielern unter erheblichen Druck gesetzt“, sagt Rembeck. Und wenn der Doc sich weigere, den Schmerz zu betäuben, dann „geht der Spieler halt zu einem anderem Arzt“, weiß Jürgen Rollmann, bis 1995 Torwart in Bremen und Duisburg. Eine Minderheit wird auch in Zukunft nach Karriereende mit Arthrose durchs Leben humpeln. Wie Diego Maradona, Marco van Basten oder der Torwart Harald Schumacher. Der Beispiele sind viele.
Geoff Strong, englischer Meister und Cupgewinner, hat 1966 in jenem Spiel gegen Celtic, als er nicht mehr laufen konnte, tatsächlich ein Kopfballtor erzielt, das entscheidende zum 2:0. Es brachte Liverpool ins Endspiel. Der Fernsehkommentator schrie damals: „Der Krüppel macht das Tor, der Krüppel macht das Tor!“ Als er davon hörte, habe er gelacht, sagt Strong. Damals.
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