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Industriestandort Ost: abgewickelt

Nach einer Studie von Gerhard Kehrer gehörte der „Industriestandort Ostdeutschland“ (so auch der Titel seiner Untersuchung: Berlin 2000, 234 Seiten, 38,80 Mark) zu den am stärksten industrialisierten Regionen Europas. Jeder der 227 Kreise der DDR verfügte über Industriearbeitsplätze. Der Landkreis Merseburg (Sachsen-Anhalt) zählte 1989 rund 64.000 und der am schwächsten industrialisierte Agrarkreis Röbel (Mecklenburg-Vorpommern) immerhin noch 900 Industriearbeitsplätze. Im neuen Ostdeutschland wurden etwa 15.000 Industriestandorte in Industriebrachen verwandelt; betroffen war in erster Linie der Norden.

In der industriell organisierten Landwirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns arbeiteten 1990 180.000 Beschäftigte. Dagegen sind heute nur noch rund 30.000 Arbeitskräfte in der Landwirtschaft beschäftigt.

Andreas Willisch untersuchte gemeinsam mit den Soziologen Frank Ernst und Kai Brauer die mecklenburgische Gemeinde Tranlin im Kreis Parchim. Von 1990 bis 1997 dokumentierten sie die Entwicklung des Bauerndorfes von der ersten Euphorie über die deutsche Vereinigung bis zur Depression über deren Folgen. Im Augenblick bereiten sie die Veröffentlichung ihrer Studie im Wissenschaftverlag Berliner Debatte unter dem Titel Industriearbeiter aufs Land vor.

Berthold Vogel, ein Göttinger Soziologe, Autor des Buches Ohne Arbeit in den Kapitalismus (VSA, Hamburg 1999, 238 Seiten, 36,80 Mark), untersuchte den Arbeitsamtsbezirk Neuruppin und fand heraus, dass die ostdeutsche Gesellschaft eine umgekehrte Zweidrittelgesellschaft ist.

Der Begriff im westdeutschen Sinne wurde in den Achtzigerjahren von Peter Glotz geprägt. Der sozialdemokratische Intellektuelle erkannte die Mehrheitsgesellschaft der Bundesrepublik als drittelstrukturiert: Die oberen zwei Drittel haben sich darum zu kümmern, auch das chronisch oder zeitweise perspektivlose untere Drittel (Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger) in die Gesellschaft zu integrieren.

Heute findet Glotz in seinem neuen Buch Die beschleunigte Gesellschaft (Kindler, München 1999, 288 Seiten, 44,90 Mark), dass dieses Drittel von Modernisierungsverlierern und -verweigerern überflüssig sei und nur noch durch Bürgergeld ruhig gestellt werden könne.

Die französische Studie von François Dubet und Didier Lapeyronnie, Im Aus der Vorstädte (Klett-Cotta, Stuttgart 1994, 244 Seiten, 36 Mark), beschreibt die extremen Probleme französischer Jugendlicher in den großstädtischen Peripherien Frankreichs. Immer wieder machen diese Vorstädte durch Krawalle jugendlicher Banden auf sich aufmerksam.

Doch auch andere europäische Länder kennen inzwischen diese Probleme. Kürzlich kam es in der südspanischen Stadt El Ejido zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen afrikanischen Arbeitern und spanischen Jugendlichen, nachdem eine junge Spanierin von einem geistig verwirrten Marokkaner erstochen worden war.

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