: Die Egoisten
Wie Kälte in grüne Wortlandschaften kriecht: Stefan Otteni eröffnet mit seiner Inszenierung von Robert Musils „Die Schwärmer“ die Kammerspiele des DT ■ Von Esther Slevogt
„Auch ich war ein Schwärmer!“, sagt Stadler, der Detektiv, zu Thomas, der in seinen Augen noch immer ein Schwärmer ist. Also einer, der noch „ein Stück vom flüssigen Feuerkern der Schöpfung in sich trägt“. So jedenfalls erklärt uns Robert Musil das Phänomen des Schwärmers und führt vier Exemplare dieser Spezies vor: Thomas, Regine, Maria und Anselm.
Vier Leute in ihren Dreißigern, verheiratet, erfolgreich, aber irgendwie nicht glücklich. Jetzt sind sie noch mal in ein altes Landhaus zurückgekehrt, wo sie ihre Jugend verbrachten. Wo sie vom Leben und seinen Möglichkeiten träumten und nun sehen, was daraus geworden ist. Nämlich eben nicht, was sie erträumten. Stefan Otteni hat mit seiner Inszenierung von Musils Stück von 1921 die Kammerspiele des Deutschen Theaters wieder eröffnet. Auch als Ort für Weltentwürfe, Träume und Gefühle, wie Otteni nicht müde wurde zu erklären.
Wozu dann allerdings die matrialische Werbekampagne im Vorfeld der Eröffnung nicht so recht passte: elektrischer Stuhl, Zahnarztsessel, das war viel eher noch die Welt der künstlichen Erregung und der billigen Effekte, gegen die Otteni sein Theater als Ort echter sinnlicher Erfahrung ja setzen wollte. Jedenfalls ist das Landhaus, wohin die Schwärmer zurückkehren, gleichzeitig ein neuer Theaterraum. Die plüschige Bestuhlung ist weg. Dafür gibt es jetzt an drei Seiten Zuschauerpodien, wo man auf nackten Holzboden blickt. Arena heißt der Spielort jetzt, was irreführend ist. Denn unter Arena stellt man sich einen Ort für Großveranstaltungen vor.
Die neuen Kammerspiele aber sind nun so intim, dass eine empfindsame Dame neben mir bei jeder Gefühlswallung der Schauspieler, die nun fast körpernah vor ihr spielten, kleine spitze Schreie der Erregung ausstieß: wenn Regine schreit und weint, von Claudia Hübbecker als hysterische Träumerin gespielt; wenn Anselm sich mit dem Messer den Bauch ritzt – Robert Galinowski spielt ihn für Guntram Brattia, der sich auf der Generalprobe so schwer verletzte, dass die Premiere um vier Tage verschoben wurde.
Dass Galinowski nur vier Tage Probenzeit hatte, merkt man nicht, wenn Thomas (Hubertus Hartmann) leidet und Maria (Petra Hartung) versucht, die Gefühle in den Griff zu kriegen, die der Menschenfänger Anselm in ihr auslöst. „Sie liebt die blumenreichen Gespräche, die grünen Wortlandschaften“, sagt Regine abfällig über die Schwester und lobt Anselm für seine Fähigkeit, falsche Illusionen zu produzieren und die Sehnsucht der anderen nach dem Leben zu missbrauchen.
Musils selten gespieltes Stück hatte Erwin Axer 1980 für das Wiener Akademie-Theater wieder entdeckt. Aber erst Hans Neuenfels’ Inszenierung für das Berliner Schlosspark-Theater machte 1982 „Die Schwärmer“ zum Programmstück der im Establishment angekommenen Achtundsechziger. Nach den Jahren der totalen Politisierung entdeckte man plötzlich das Gefühl wie einen unbekannten Kontinent. Man badete darin wie in einer kostbaren Essenz, die man sich nun leisten konnte, selbstverliebt und exzentrisch. Und drohte gleichzeitig in diesen Gefühlen unterzugehen.
Nach fast zwanzig Jahren hat sich nun Stefan Otteni der Sache noch mal angenommen. Von der totalen Politisierung ist nicht viel übrig. Die Ideologien sind untergegangen, ihr Utopiepotenzial ist verbraucht. Und auf einmal ist das Gefühl wieder gefragt als letzter Schutzraum vor dem totalen Zugriff der Marktwirtschaft. Die Liebe als letzte Utopie. Und damit sind auch Musils Figuren in der Gegenwart angekommen. Otteni entdeckt in ihnen Menschen, die das Fühlen völlig verlernt haben. Deren Sehnsucht, noch einmal etwas zu empfinden, sich mit menschenfresserischer Energie ausbreitet. Die Leute haben Sehnsucht nach Wärme und verstömen selbst bloß Kälte und Zerstörung. Bilden die Welt bloß noch einmal ab, aus der sie entkommen wollten. Otteni und sein Dramaturg Martin Braucks haben das Stück auf etwa drei Stunden verknappt.
Keine Spur von Salonstück mehr. Zurück blieben die nackte Handlung und die nackte, hilflose Sehnsucht der Protagonisten nach irgendetwas Echtem: Sie nennen es Gefühl, den Ausbruch aus dem Kerker der Vernunft. In dieser Sehnsucht werden sie zu Monstern, zu rücksichtlosen Egoisten gegen die, die sich in aller Bescheidenheit mit der Realität arrangiert haben. Fräulein Mertens eben, die Margit Bendokat spielt wie eine, die an ihrer Sehnsucht verbrannte. Detektiv Stadler (Uwe Koschwald), der hofft, mit Hilfe von empirischen Methoden das Gefühl in den Griff zu kriegen, und scheitert.
Auf der Erde liegen stapelweise graue NVA-Decken und erinnern in ihrer rohen sinnlichen Präsenz an Installationen von Beuys (Bühne und Kostüme: Franz Lehr). Und dann vier gigantische Kronleuchter, die irgendwie auch für die Maßlosigkeit der Ansprüche der vier Protagonisten an das Leben stehen können. Am Ende großer Applaus. Die empfindsame Dame neben mir seufzte ergriffen.
Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstr. 13; nächste Vorstellungen: Infos unter 28 44 12 25
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen