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Und wo bleibt die Welt?

Gestern Abend gingen die 50. Internationalen Filmfestspiele von Berlin mit der Verleihungder Bären zu Ende ■ Von Katja Nicodemus

Es gibt niemanden, der so symbiotisch mit einer Bartheke verschmelzen kann wie Al Pacino. Der Blick am Whiskyglas vorbei ins Nirgendwo, in der Stimme die abgeklärte Melancholie von mindestens dreißig Jahren stoischem Alleinsein. Das Bild des einsamen Pacino bleibt, auch wenn der Rest von Oliver Stones Football-Film „Any given Sunday“ augenblicklich verpufft und die Berlinale vorbei ist. Im diesjährigen Wettbewerb gehörte Stones Film zu jener gut gemachten und gut dröhnenden Sorte Plastikkino, die in Verbindung mit dem Potsdamer Platz leichte Depressionen auslösen konnte. Als ob die Ästhetik der Leere im Kino mit der architektonischen Leere vor dem Kino eine seltsame Interferenz erzeugt; manche nennen das auch Cinemaxx-Effekt. Danach konnte man sich an einen der vielen nagelneuen Tresen der nagelneuen Bars am Platz setzen, um sich für einen selbstmitleidigen Moment so verloren vorzukommen wie Al Pacino.

War ja auch alles ein bisschen neu, ein bisschen steril bzw. „un peu playmobil“, wie Jeanne Moreau es ausdrückte, aber auch irgendwie in Ordnung. Die Filmfestspiele haben am neuen Ort funktioniert, die Qualität der Projektionen war okay, Publikum war auch da, die Teenies kreischten nach DiCaprio, und Moritz de Hadeln sagt immer noch das Film – was will man eigentlich mehr?

Vielleicht einen Wettbewerb mit Filmen, die etwas mehr über die Welt sagen. Zumindest mehr als die pathetischen Durchhaltepredigten der Sportmythen aus Hollywood, die ihre Geschichten so hysterisch emotionalisieren, dass vom Thema nichts mehr übrig bleibt. Wie in Stones Footballdrama bekam man auch in Norman Jewisons Boxerpassion „Hurricane“ drei Stunden lang die „Du musst an dich glauben“-Message um die Ohren gehauen, wobei Rassismus kein gesellschaftliches Prioblem, sondern die schlechte Laune eines einzelnen Polizisten ist. Dazu ein superheroischer Denzel Washington in der Rolle des unschuldig einsitzenden Fighters (Silberner Bär als bester Darsteller, in Gottes Namen). Was ist die Welt für 21 Filme? Eine Beziehungskiste, ein Eheproblem, ein psychoanalytisches Theorem, 30 Überblendungen am Anfang eines russischen Kostümfilms. Oder eine Liebesgeschichte mit noch mehr Überblendungen und einem riesigen Streicherensemble über den goldenen Wiesen der chinesischen Provinz. Der Blick auf die Wirklichkeit war nicht gerade en vogue im Wettbewerb der 50. Internationalen Filmfestspiele von Berlin, von einer Haltung, erst recht einer politischen, gar nicht zu reden. Dafür gab es ewige und eherne Probleme.

Herr und Knecht zum Beispiel, die sich in François Ozons Fassbinder-Adaption „Gouttes d’eau sur pierres brûlantes“ in der Konstellation eines schwulen Paares gegenüberstehen. Die deutschen Siebziger zwischen Aufbruch und Spießertum, Schlager von Tony Marschall und Gefühle zwischen Sadismus und Sehnsucht in einer Wohnung, die zugleich Arena und Zuhause, Kampfplatz und Gefängnis ist. Herrschaft und Manipulation als eine Frage der filmischen Mittel. Mit seinen grafischen Einstellungen, einer ruhigen Stilisierung und konsequenten Künstlichkeit setzt Ozons Film dem erzählerischen Overkill der Kollegen ein geradezu erholsames Formbewusstsein entgegen. Da ist es plötzlich wieder, dieses Fassbinder-Gefühl, die Schärfe des Textes, die Mischung aus Zärtlichkeit und Unerbittlichkeit gegenüber den Figuren, private Machtverhältnisse, die hier ganz selbstverständlich immer auch gesellschaftliche meinen. „Gouttes d’eau sur pierres brûlantes“ (Gewinner des Teddys für den besten schwul-lesbischen Film) – eine kleine, unaufwendige Arbeit, dieähnlich wie „Paradiso – Sieben Männer und sieben Frauen“, Rudolf Thomes Versöhnungsfantasie gegen die Vergänglichkeit (auch ein Stückchen Ewigkeit), neben den hochgetunten Hollywoodmaschinen fast ein bisschen verloren im Wettbewerb wirkte.

Noch ein kleiner Film über Ewiges: In „Bedrängnis im Mai“ kehrt ein Filmemacher aus Istanbul ins Haus seiner Eltern zurück. Die Falten der Alten wirken noch tiefer vor dem Kindsein des kleinen Neffen, und ein Stückchen eigener Wald wird zum Bollwerk gegen die Zeit. Einmal trägt der kleine Junge einen Korb voller Tomaten über einen Hügel. Als die roten Bälle den Weg hinunterrollen, denkt man unwillkürlich an Abbas Kiarostami, an die Art von Bildern, die auf dieser Berlinale fehlten, und an die Art von Film, die man in diesen vielleicht nur hineinliest. Dafür hat „Bedrängnis im Mai“ eine hypersensible Tonspur, die das aufzeichnet, was Proust mit der Musik des Sommers gemeint haben muss: Die Schrittchen eines Käfers, Grillenzirpen, knackende Gräser, Blätterrascheln, ein ferner Vogel, ein leiser Wind – noch eine Erholung zwischen den wabernden Soundteppichen und akustischen Ballermännern, mit denen man es sonst so zu tun hatte (wenn bei Stone der Football aufs Feld knallt, hört man einmal Bombengeräusche, ein anderes Mal Düsenjäger).

Angst vor der Stille ist die einzige wirklich große Schwäche von Paul Thomas Andersons „Magnolia“, der von Anfang an wie preisprädestiniert schien: ein ganzer Strauß aus existenziellen Themen wie Sterben, Einsamkeit, Eltern-Kind-Geschichten, Identitätskrisen, eine gute Portion Zivilisations- und Kulturkritik, ein großartiges Ensemble, Humor und das alles auf drei Stunden Länge (die ein Wettbewerbsfilm ja inzwischen haben muss, um nicht ins Kurzfilmprogramm zu rutschen). Was bleibt? Julianne Moores angespanntes Gesicht, während sie in der Apotheke auf ihre Megaportion Tabletten wartet. Ihre verzweifelte Empörung gegen die ironischen Sprüche des Apothekers, ihr Versuch, noch ein bisschen Würde mit zur Tür hinauszunehmen. Oder das Gemurmel ihres sterbenden Mannes, das einmal, wenn endlich für ein paar Sekunden Ruhe herrscht, zur eigentlichen Musik des Films wird. „Magnolia“ erzählt von den Masken einer Gesellschaft, von der Angst vor dem Anderen, von den Strategien des Aneinandervorbeilebens und -redens, und dafür gab’s den Goldenen Bären.

Milos Formans „Man on the Moon“ kratzt ebenfalls an den Masken herum, nur hat er dafür eine wirkliche Waffe: Jim Carrey als Komikerlegende, wandelnde Performance und Nervensäge Andy Kaufman. Kaufmans Lebensgeschichte, das ist hier einerseits braves Bio-Pic, aber auch die Ahnung vom revolutionären Potenzial einer Samstagabend-Live-Show, gegen die Stefan Raab wie ein liebenswerter Konfirmand wirkt. Das Leben – für Kaufman eine Publikumsverarschung, und sei es nur, um den Titel des intergeschlechtlichen Wrestling-Weltmeisters zu tragen. Wenn der Tumor zur Pointe und der eigene Tod zum transzendentalen Gag wird, dann erzählt das Kino auch vom eigenen Illusionscharakter. Warum eigentlich muss man Denzel Washington einen Bären hinterherwerfen? Dann schon lieber Carrey, allein schon wegen der durchgeknallten Szene, in der Kaufman eine 94-Jährige während der Carnegie-Hall-Show auf einem Holzpferdchen zum Herzinfarkt peitscht.

Auf der einen Seite große Kisten wie „Magnolia“, „The Beach“ oder „Man on the Moon“ und auf der anderen Seite kleine Autorenfilme. Was im Wettbewerb fehlte, war ein Mittelbau, waren Filme der Almodóvar-, Loach-, Tarantino- oder Dogma-Klasse, die dem luftleeren Mainstream-Raum ihre Weltsicht, ihr Anliegen, eine Verbindlichkeit entgegensetzen. Dafür gab es das, was früher mal eine Weltsicht war: Dass Zhang Yimou, wie auch kürzlich in Venedig, für die nur mehr gefühlsduseligen Reste seines vormals chinakritischen Kinos auch noch Preise bekommt, ist das einzige wirkliche Ärgernis. Plädoyer für Individualismus und Gemeinschaft, Gegenwart und Vergangenheit – Yimous ländliche Liebesgeschichte „The Road Home“ ist buntes Wischiwaschikino, in das man hineinlesen kann, was man will. In Erinnerung bleiben die aufdringlich auf und ab hüpfenden Zöpfe der rotwangigen Hauptdarstellerin und die Penetranz der sentimentalen Flöte.

Love-Storys, Gefühlsvehikel, Sportmythen, kleine Geschichten für die Ewigkeit – irgendwie passte die Weltentrücktheit des Wettbewerbs zum neuen Ort. Warten wir also auf die Wirklichkeit.

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