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Anarchie und Eigenheim

Das Kindermuseum zeigt die Ausstellung „LegoWelt“ ■ Von Kolja Mensing

Die weiße, schmucklose Kirche steht wie ein Zitat frühmoderner calvinistischer Baukunst inmitten der kleinen Stadt. Ansonsten sieht es hier sehr modern aus. Die Grundstücke der Einfamilienhäuser sind scharf voneinander abgetrennt, die Straßen für die überbreiten Mobile einer nahen Zukunft ausgelegt, und neben der Kirche, dort wo man früher den Friedhof vermutet hätte, findet sich eine Autowerkstatt. Das größte Gebäude, höher noch als der Kirchturm, ist das Rathaus. Über dem Eingang steht: „Lego“.

Die spätbürgerliche Idealstadt aus Legosteinen, heute selbst schon historisches Zitat. 1958 wurde das Modell entworfen, erst fünf Jahre zuvor war der „Lego Mursten“, der genoppte „Legomauerstein“ in die Serienproduktion gegangen. Im Kindermuseum Berlin ist jetzt eine kleine Ausstellung zu sehen, die das Historische Museum der Pfalz zusammen mit dem Lego Ideen Haus in Billund entwickelt hat: „LegoWelt. Spiel mit der Phantasie“ erzählt die Geschichte des bekanntesten Systemspielzeugs der Welt.

Der Produktname Lego ist zusammengesetzt aus den dänischen Wörter „leg“ und „godt“: „gut spielen“. Die Firma, zunächst noch ein kleiner Familienbetrieb, stellte in den 30er-Jahren Holzspielzeug her, später Spielzeugautos aus Metall und Plastik. Die Produktion nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelte den dänischen Wunsch nach Wiederaufbau wider, nach geordneten, zivilen Verhältnissen: Weiße Milchlaster fuhren neben schwarzen Kohlenlastern, Traktoren-Bausätze pflügten durch die Kinderzimmer.

Der Übergang von der Agrar- in die Stadtgesellschaft fand in der Legowelt mit der Einführung des „Mursten“ statt, der auf genoppten Grundplatten mit eingearbeiteten Stadtplänen einrasten konnte. Anfang der 60er-Jahre wurden die Häuser größer, die Sprossenfenster ausgetauscht und die Garagentore gar mit einem aufregenden Mechanismus ausgestattet: Fuhr eines der Automodelle – VW Käfer überwiegend – vor, klappte das Tor von selbst auf. Verspielte Sachlichkeit allenthalben: Es wuchsen Trabantenstädte aus Lego und amerikanisch aussehende Bürogebäude mit gelb gerahmten Curtain-Walls aus Plastikglas.

1962 erfand Lego das Rad. Mit diesem evolutionären Sprung begann im Kinderland ein kurzer Sommer der kreativen Anarchie. Die vorgefertigten Automodelle, die bis dahin wie Fremdkörper durch die genoppten Oberflächen der Legowelt gefahren waren, wurden abgeschafft, der Baustein mit Rädern machte den Weg frei für kantige, aber freie Kreationen, die sich nicht mehr an Baupläne und vorgezeichnete Straßenlayouts hielten und immer wieder neu und anders zusammengesetzt wurden: Macht kaputt, was ihr gerade erst gebaut habt. Das rasselnde Geräusch einer Hand, die in einer großen Kiste voller Legobaustein wühlt, war die Fanfare dieser in ihren besten Momenten antizivilisatorischen Bastelbewegung.

Man muss sich die die Legokinder dieser Jahre als wilde Formendenker vorstellen – ganz anders als die netten Mädel und Buben, die auf den Legopackungen der 50er-Jahre mit stillem Blick Stein um Stein Eigenheime zusammensetzen. Von solchen idyllischen Spielszenen träumen Eltern. Die Legoschöpfer forcierten darum 1974 den nächsten Evolutionsprung. Es ward der Mensch, die Legofamilie. Mama und Töchter mit schwarzen Zöpfen, Papa mit Seitenscheitel und der Sohnemann leicht zerzaust: Das ist das Set „Wohnzimmer“. Die Installierung der Kleinfamilie in der Legowelt war der symbolische Abschluss der wilden Designs. Die entsprechende Vitrine im Kindermuseum trägt den lakonischen Verweis, dass mit der neuen Produktserie das Spiel „nun auch nach dem Basteln“ weitergehen konnte. Playmobil, wenige Jahre später zum Patent angemeldet, widmete sich dem Spiel danach souverän von Anfang an.

In den 80er- und 90er-Jahren wurde die Legowelt zugleich historisiert und technisiert. Die Weltraumserie errichtete auf dem leicht veränderten Grundriss der Lego-Idealstadt Mondbasen, und die mit pneumatischen Bausteinen ausgerüsteten „Model Team“-Fahrzeuge machten ab 1990 Fischertechnik Konkurrenz. Gleichzeitig entstanden zwei Klassiker: die Ritterburg und die Pirateninsel. Das Faszinierendste an der Ritterburg ist wahrscheinlich die Zugbrücke, die genau wie das automatische Garagentor der frühen 60er wirklich zu benutzen ist: Zuletzt geht es doch immer darum, eine Möglichkeit zu finden, die Kinderwelt gegenüber der Erwachsenenwelt abzuschotten, mit Toren, Zugbrücken oder dem kybernetischem Geheimwissen, das die Roboter-Serie „Lego Mindstorms“ in „intelligente“ Noppen-Bausteine eingeschlossen hat.

Das ist doch ein Trost: dass selbst die avanciertesten Entwicklungsstufen des Systemspielzeugs Lego noch Konspiration und Revolution in sich tragen. Der andere Trost ist die große Kiste in der Mitte des Kindermuseums. Sie gehört auch zur Ausstellung, sie ist randvoll mit Legobausteinen, und wer seine Schuhe auszieht, darf darin waten.

„LegoWelt. Spiel mit der Phantasie“. Bis zum 21. Mai. Mo–Fr 9–13 u. 14–18 Uhr, Sa 13–18 Uhr, So 11–18 Uhr. Kindermuseum Berlin, Osloer Str. 12

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