Die Geschichte der O. ■ Von Helmut Höge

„Life like a failing business“ – das ist der Alltag auf der Kreuzberger Oranienstraße. Und dazu gehört auch seine künstlerische Bearbeitung – post mortem. Im vergangenen Jahr wurde das tote Düsseldorfer Punkpärchen, das es bis aufs Zitty-Cover brachte, filmisch gewürdigt – und damit als Doppelfall abgeschlossen. Außerdem wurden die zwei türkischen Gemüsegärtner hinter der Mariannenplatz-Kirche sowie die Wagenburg am Engeldamm in einem Film „verewigt“.

Heuer war nun Ingrid Rogge dran: jenes blonde schwäbische Mädchen, das in den Achtzigern ermordet auf dem Dachboden der Waldemar 33 gefunden wurde. Eine Spiegel-Edelfeder hatte sie beizeiten gewürdigt: in einer Reportage über die verwegene Waldemarstraße, in der die Punkmädels sich schminken und Felle von vom Aussterben bedrohten Tierarten tragen durften: „wenn ihnen darüber nicht der Charme von Sperrmüll abhanden kam“.

Der Regisseur Erwin Michelberger hat – mit SFB-Geldern – aus seiner „Spurensuche“ ein geradezu existenzialistisches Oeuvre gezwiebelt: „Hat es was genützt, dass wir erwachsen geworden sind?“ So lautete seine Ein- bzw. Ausgangsfrage. Michelberger stammt aus derselben Gegend – Saulgau – wie Ingrid Rogge und ihr Bruder Dieter. Beide waren auf „extreme Erfahrungen“ aus. Bei Dieter waren das harte Drogen, bei Ingrid Kreuzberg. Zunächst tat ihr das gut, das muss sogar der Sprecher der Mordkommission einräumen. Nachdem sie daheim zunächst in einer T-Shirt-Fabrik gearbeitet hatte, verließ sie mit 16 das Elternhaus und ging 1979 nach Berlin, wo sie zunächst kellnerte.

Irgendwann zog sie dann in die Walde 33, wo sich damals eine Kommune befand sowie das Frontkino und hintendran der Kinderbauernhof. Der Regisseur fand Archivmaterial über diverse Polizeieinsätze und auch noch zwei Frauen aus der Kommune sowie einen jungen Mann, der 1979 zwölf Jahre alt war und in der Fabriketage aufwuchs. Außerdem interviewte er den Betreiber des Frontkinos, der ihm ein teures Nan-Goldin-Originalfoto von sich schenkte, was den Regisseur sehr verblüffte.

Michelberger studierte einst in Düsseldorf, und deswegen gehören auch Joseph Beuys mit seinem Adlatus Anatol sowie der KPD/ML-Maler Immendorf mit ein paar Schülern zu seiner „Spurensuche“. Immer wieder kommt er auf die oberschwäbische Heimat zurück: auf die Hexenmasken der Fastnachtsbräuche, den Silberschatz im Wald, auf seine ehemaligen Schulkameraden, die sich jetzt in ihrer Tochter und ihrem Holzhaus mit Sonnenblumen drumherum verwirklichen... Vor allem aber auf das inzwischen abgerissene Oberland-Kino, wo sie früher in der ersten Reihe saßen und sich vorab die Werbe-Dias – als Waren- bzw. Glücksversprechen – untereinander aufteilten. Ein Kinospiel, das es auch in Norddeutschland gibt: Derjenige, der dran ist, bekommt das, was das Dia gerade zeigt. Da freut man sich dann z.B. über einen Mercedes, ärgert sich über Rasierwasser und lacht hämisch über den, der Damenbinden abbekommt. Dergestalt wird die kindliche Psyche früh auf Wünsche und Waren prospektiv enggeführt – und das autonom.

Ingrid Rogges Wunscherfüllung war wie gesagt auf „Extremeres“ aus: Sie suchte den wahren „Kick“. Und nun ist die Gegend um die Walde 33 schon lange schick. U. a. ist dort das Hanfhaus inzwischen domiziliert und etwa ein bis zwei Dutzend neue Medienfirmen. Ingrids Tod vor der Wende – „Turning-Point“ auf der Berlinale genannt – wurde nie aufgeklärt, wie man so sagt. Dafür hat der Regisseur ihr nun ein kleines Denkmal gesetzt. Sein Film ist etwas zu „poetisch“ geraten, aber der jungen Saulgauerin hätte er wahrscheinlich gefallen. Aber ob ich es noch erleben werde, wie all diese kurzgeschorenen Internetsurfer auf den Dachböden der Walde enden – das ist die Frage, mit der ich aus dem Kino schlich.