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Keine traurige Ausnahme, sondern schreckliche Regel

Weiße und Schwarze demonstriertennach dem Freispruch gegen Rassismus

Manhattan am Samstagnachmittag. „Dies ist keine Pistole!“, rufen tausende von New Yorkern auf den Bürgersteigen der 5th Avenue und halten ihre Brieftaschen hoch. Nach dem Freispruch der vier Polizisten, die 41 Kugeln auf den unbewaffneten jungen Migranten Amadou Diallo aus Guinea abgefeuert hatten, weil sie sein Portmonee für eine Pistole gehalten haben wollen, war mit Telefonketten, E-Mails und mit Hilfe des linken Radiosenders Pacifica zur Spontandemo aufgerufen worden.

In Zweierreihen links und rechts der Straße halten blau Uniformierte den Verkehrsfluss aufrecht und verhindern jeden Versuch, Kreuzungen zu blockieren. Bis zum Abend werden mehr als hundert Menschen wegen „Ordnungswidrigkeit“ in die blauweißen Polizeiwagen verfrachtet.

In den Seitenstraßen warten zivile Greiftrupps und Sondereinsatzkommandos der Polizei. Und einen Straßenblock vom Times Square entfernt, dem Touristenzentrum mit seinen Disney-Buden und Leuchtreklamen, ist Schluss. Es ist ein Großaufgebot von Polizisten, das fest entschlossen ist, unter allen Umständen ein Anschwellen des Demozuges zu verhindern. Denn das nächste Ziel ist klar: City Hall, rund ein Kilometer weiter downtown.

Menschen aller Hautfarben, Sprachen und Nationalitäten sind vertreten, und ihre Vielfältigkeit straft düstere Agenturmeldungen Lügen, in New York gebe es „Rassenspannungen“. „Fick die Bullen“, heißt es auf selbst gemalten Plakaten, „Ku-Klux-Klan-Bullen“ und „Gerechtigkeit für Amadou“.

Der Lärm von Polizeisirenen der Harley Davidsons, auf denen dunkel bebrillte Polizisten vorbeifahren, übertönt zeitweise die Sprechchöre.

Gabrielle Koren feuert zum Weitergehen an. „Nicht stehen bleiben, sonst nehmen sie uns fest“, schreit sie. Gabrielle trägt ein Schild mit der Aufschrift „Jim Crow Justice“ – benannt nach dem Lynchjustiz-Rassismus, wie er in den Südstaaten von den 20ern bis in die 50er-Jahre herrschte. Gabrielle stammt aus Budapest und lebt seit 23 Jahren in New York. Sie protestiert, um „für Gleichheit“ einzutreten. Nein, es gehe nicht um „Rasse“, sagt sie, sondern „um die Erfindung von Rasse durch weiße Rassisten“. Und um den „Polizeistaat“. Sie selbst sei „nicht weiß, sondern Ungarin“.

Er stamme aus dem westafrikanischen Sierra Leone, sagt ein etwa 30-jähriger Mann, der seinen Namen „aus Sicherheitsgründen“ nicht nennen will. Er lebe in der Bronx und habe seine drei Kinder nicht zur Demo mitgenommen, weil sie „Angst vor der Polizei haben müssen“. Zwischen Weißen und Schwarzen werde die Wirklichkeit „völlig unterschiedlich“ wahrgenommen: „In unseren Vierteln sind Festnahmen, Razzien und Zufallskontrollen durch die Polizei gang und gäbe, in den weißen Vierteln nicht.“ Stunden später haben sich hunderte dem ungenehmigten Protestmarsch angeschlossen. Die City Hall ist umzingelt. „Das war nur der Anfang“, tönt es aus einem Megaphon. Denn für die meisten New Yorker stellt sich die Frage, ob es eine bedauernswerte Tragödie oder ein rassistischer Polizeimord war, gar nicht. Der Fall Diallo ist in den Augen der Mehrheit keine traurige Ausnahme, sondern die Regel.

„Überwiegend negativ“, schätzt selbst die notorisch ausgewogene New York Times die Reaktionen der Öffentlichkeit ein. Übersetzt heißt das: Die Mehrzahl der Bewohner in den fünf Stadtvierteln – und mit ihnen die Bronx – missbilligt, wie die Behörden im Fall Diallo gehandelt haben. Die Verlegung des Verfahrens aus dem von Schwarzen dominierten Viertel Bronx in das „weiße“ Albany, die Hauptstadt des Staates New York, wird heftig kritisiert. Und jene 41 Kugeln, die die vier Zivilbeamten innerhalb von Sekunden und aus nächster Nähe auf Diallo abgefeuert haben, sind bereits Teil der amerikanischen Kultur geworden: als Textzeilen in den Songs von Rappern und HipHop-Bands.

Max Böhnel, New York

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