Die CDU-Spendenaffäre und die Folgen (13): Der nachträgliche Aufstand der jungen CDU-Halbwilden taugt nicht zur Erneuerung
: Die vaterhörige Generation

Kohl war nicht der große Staatsmann, als den er sich wohl immer noch sieht

Man müsse einen „klaren Schlussstrich“ ziehen, fordern sie. Mit dramatischen Gesten wehren sie sich gegen den Vorwurf einer „Kollektivschuld“. Sie seien Opfer, „belogen und betrogen“, missbraucht und verführt. Die Führung habe total versagt. Und: Schuld hat in allererster Linie der Eine. In den Verlautbarungen der jungen CDU-Garde zum Spendenskandal, die uns „rückhaltlose Aufklärung“ und radikalen Bruch mit dem alten System versprechen, wiederholen sich Redeweisen aus einem ganz anderen historischen Kontext.

Die jungen Halbwilden der Christdemokraten, die nie gewagt hätten, den Kanzler und Parteivorsitzenden Kohl herauszufordern, exekutieren ein Schema, das von der Väter- und Großvätergeneration geschaffen wurde, um sich diskret aus der NS-Vergangenheit hinwegzustehlen. Die Derealisierung der NS-Zeit, die Flucht vor jedweder Schuld oder Verantwortung, die sprichwörtlich gewordene (und deshalb feuilletonistisch bedeutungsentleerte) „Unfähigkeit zu trauern“ ist das psychische Fundament der zweiten deutschen Republik geblieben. Die Generation der heute nach der Macht langenden Nachwuchsdemokraten ist mit der Tradition der Lüge aufgewachsen, mit der des Ausblendens, Schweigens und Wegschauens. Dies verbindet sie mit der „68er-Generation“, die jedoch, manchmal überspitzt und immer überfordert, wenigstens den Versuch unternahm, diese Tradition und diese Väter zu attackieren, um sich von der erdrückenden Last der Lüge zu befreien.

Die protestbewegte Schlüsselgeneration der deutschen Demokratisierungsgeschichte ist heute in ihrem Selbstbild und ihrer öffentlichen Akzeptanz tief gespalten. Neben den wenigen, die es zur Kabinettsreife gebracht haben und angeblich das Bild der Berliner Republik prägen, steht die Vielzahl der „Altachtundsechziger“ als kabarettreife Figuren. Hat diese Generation in ihrem kollektiven ödipalen Protest allenthalben die Wiederkehr des „Faschismus“, wie es in ihrem Sprachstil neutralisierend heißt, geargwöhnt, so erscheinen in der Rede der jüngeren, von Zweifeln kaum angekränkelten Berufsrealisten der ehemaligen Regierungspartei in kurioser historischer Verschiebung die klassischen Entschuldungsklischees der NS-Großväter. Warum auch nicht, denn sie sind keinesfalls Vatermörder, sondern Nachfolger, „brave Söhne“, die sich privat eher dazu berufen fühlten, die Anwaltspraxis des Vaters weiterzuführen, statt Neues zu beginnen. Politisch knüpften sie nahtlos an „das Erbe“ des großen und verehrten Führers an, der ihnen nun plötzlich als zwielichtige Gestalt entgegentritt. Doch jetzt bricht, so wird uns suggeriert, der alles ändernde Aufstand los. Die Rede vom Vatermord, die in einer durchpsychologisierten Gesellschaft mit geradezu Pawlowscher Reaktionspräzision aufkommt, geht freilich ins Leere. Wer heute vom „Vatermord“ an Helmut Kohl faselt, verkennt, dass man Tote nicht ermorden kann. Die peinliche Pointe der CDU-Spendenaffäre in generationsspezifischer Hinsicht ist: Die Attacke auf die Vaterfigur erfolgte just in dem Augenblick, als sie entmachtet, diskreditiert, gestürzt – eben politisch tot – war. Die parteiinterne „Revolte der Kohlsöhne“ ist nicht nur keine, sondern sie ist die Demonstration des sich fortzeugenden Opportunismus, der den Spendenskandal möglich gemacht hat. Wenn es die „patriarchale Struktur“ (Schäuble) der CDU war, die den Eklat ermöglichte, so wäre das einzig wirksame Gegengift eben ihre Beseitigung: was die „Revolte gegen den Vater“ – zu dessen politischen Lebzeiten – psychologisch zwingend einschließt. Sie ist in einer Weise ausgeblieben, die kaum weniger obszön ist als die jetzt zur „Aufklärung“ stilisierte Fledderei an der politischen Leiche des Patriarchen, der, ohne ein Zeichen von Schuld erkennen zu lassen, sich im Kreis potenzieller Spender quicklebendig feiern lässt.

Die Obszönität der vaterhörigen Generation ordnungsliebender Karrieristen besteht darin, dass sie den vermiedenen Konflikt zum Fanal ihres Aufstiegs erklärt: in hoc signo vinces. Die vierzigjährigen Hoffnungsträger der Union sind nicht nur deshalb unfähig zur Aufklärung, weil sie zu lange dienstwillige Kofferträger im „System Kohl“ waren, sondern weil sie deren fundamentale Bedingungen verkennen. Kants gern zitierte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ist eine Beschreibung der ödipalen Konstellation avant la lettre. Selbstverschuldet ist sie, weil sie die Mündigkeit verhindernde – väterliche – Autorität nicht angreift. Diese Externalisierung und Personalisierung der Schuld ist die psychologische Grundfigur einer lebenslangen Abhängigkeit, die auf der Lebenslüge einer geradezu transzendentalen Unschuld aufbaut.

Die verblüffende Wiederkehr des Bewältigungsvokabulars zeigt die psychologisch unmodellierte Bindung an eine Generation, die ihr eigenes biografisches Fiasko in die Metaphorik der Verführung kleidete. Die politischen Söhne Kohls leisten sich die aberwitzige Ironie, dem politischen Repräsentanten jener legendären Gnade der späten Geburt einen historischen Platz zuzuweisen, der psychologisch dem analog ist, von dem alle demokratische Entwicklung in Deutschland ihren negativen Ursprung nahm. Alles, was recht ist: Das hat Kohl nicht verdient.

Wer vom Vatermord an Kohl faselt, verkennt, dass man Tote nicht ermorden kann

Es gibt keinen Grund, Kohl, wie es nach seiner Abwahl gelegentlich geschah, kontrafaktisch hochzustilisieren: Er war nicht der große Staatsmann, als den er sich wohl immer noch sieht. Wohl aber der Machtmensch mit Gespür für das Durchsetzbare und der dazugehörigen pragmatischen Psychologie, der für ganz unterschiedliche Personen Vorbildfunktion hatte. Dem Vernehmen nach haben heutige politische Führer, die der rebellischen Tradition von 1968 entstammen, seine Nähe für Nachhilfestunden in Macht durchaus gesucht. Dass seine legitimen politischen Söhne sich nun in der Farce eines Aufstands post festum üben, ist ein schlechtes Zeichen für die demokratische Traditionsbildung der zweiten deutschen Republik. Es gibt weder Entwicklung noch Erneuerung ohne die „ödipale“ Verarbeitung der Autoritätsproblematik; es gibt ohne sie zumal keine wirkliche Zivilisierung der Macht. Die schlichte Möglichkeit, sich jemanden kaufen zu können – das ist wirkliche Macht sans phrase. Sie ist, in der Durchdringung der Sphären von Politik, Ökonomie und „Familie“ so perfekt, dass ihr Besitzer vollständig ohne die Idee auskommen kann, er sei möglicherweise selbst käuflich. Deshalb wird die angekündigte Aufklärung wohl eher ein Kassensturz und die radikale Umgestaltung und innerparteiliche Revolution nur der beschleunigte Sturz der Person Kohl: ein nachträglicher Aufstand, der nichts Reinigendes hat und nichts Erneuerndes. Christian Schneider