: Der Seemannsgang wird überflüssig
Neue Ära für Lotsen: Schiffe, die nicht schaukeln, Basis-Boot mit Sauna, Joystick statt Steuerruder: In der Deutschen Bucht wird ein neuer Bootstyp erprobt
Lautlos gleitet die „Duhnen“ durch die enge Hafeneinfahrt ins Fahrwasser. Dann gibt der Bootsmann volle Kraft, und wir brettern mit 19 Knoten in die Dunkelheit hinaus. Die Lichter Helgolands entfernen sich, das Meer wird schwarz. Ein Blick nach hinten, in das gehäckselte Inferno unseres Kielwassers, genügt um zu begreifen, dass 32 Stundenkilometer für ein Schiff ziemlich schnell sind.
Dennoch ist von den 680 kW starken Dieselgeneratoren nur ein gedämpftes Summen zu vernehmen. Sie erzeugen den Strom für die elektrischen Antriebsmotoren und bollern wohlige Wärme auf die Brücke. Mit den modernen Navigationsgeräten gestaltet sich unsere Nachtfahrt auf der offenen Nordsee eher wie ein Computerspiel im Wohnzimmer. Das grünliche Schimmern in ihren Gesichtern, wippt die Besatzung auf luftgefederten Sitzen vor den Radarschirmen und hält alle Joysticks unter Kontrolle. Aus den unendlichen Weiten des Äthers dringt ein beständiges Krächzen. Die letzte Ausholung für heute, und wir sind im Zeitplan. Nachher gibt es Bohnensuppe. In zwanzig Minuten Rendevous mit einem Frachter aus Malta bei Tonne E1, der Lotse muss wieder von Bord.
Seit August 1999 testen Kapitän Michael Neuwienger und seine zweiköpfige Crew den 25 Meter langen Tender „Duhnen“ im zweiwöchentlichen Wechsel mit dem Schwesterschiff „Döse“ von Helgoland aus unter Einsatzbedingungen. Beide Tender gehören zusammen mit ihrem doppelt so großem Stationsschiff „Elbe“ zum neuen Lotsenversetzkonzept „Elbe Range“, das ab Mitte 2000 die betagten Lotsendampfer in der Deutschen Bucht ablösen soll. Einzige Aufgabe der Schiffe: Lotsen werden an Bord der Frachter gebracht, die in die Häfen einfahren wollen.
Ein völlig neuartiges Konstruktionsprinzip, von den Ingenieuren zärtlich SWATH ( für small waterline twin hull ) genannt, macht diese Schiffe für ihre Aufgabe so besonders geeignet. Das Überwasserschiff steht auf zwei U- Booten, denen kein Sturm etwas anhaben kann, denn unterhalb der Wasserlinie hat Seegang keine Wirkung. Dabei bieten die „Stelzen“ der Wasseroberfläche und somit den Auftriebskräften der Wellen eine im Vergleich zum herkömmlichen Schiffsrumpf verhältnissmäßig geringe Angriffsfläche. Die Wellen laufen einfach unter dem Rumpf hindurch. Zusammen mit einem System elektronisch geregelter Tiefenruder an den Schwimmkörpern beschert diese Technik dem Seemann ein für seine Größe erstaunlich ruhig dahingleitendes Fahrzeug, hervorragenden Seegangs- und Manövriereigenschaften bis neun Windstärken und anfangs auch ein wenig Muskelkater in den Beinen.
Während sich ein Schiff normalerweise die Wellentäler auf und ab bewegt oder seitlich in der Dünung rollt, schlägt der Hightechbolide eher ruckartig nach links und rechts aus, als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen. Eine noch ungewohnte Belastung für die Besatzung, der in vielen Dienstjahren antrainierte Seemannsgang muss modifiziert werden, aber keine Chance dabei Seekrank zu werden.
Nach gut fünfzehn Minuten tauchen die Positionslichter des Frachters in der Dunkelheit auf. Kurz darauf sind auch die hell erleuchteten Decksaufbauten deutlich auszumachen. Bootsmann Montag zieht sich die Jacke über und legt den Gürtel für die Sicherungsleine an: Die Reling des Tenders ist teilweise unterbrochen, um ein Aufnehmen des Lotsen zu erleichtern. Schnell nähert sich das Lotsen-Boot der riesigen schwarzen Bordwand, bis wir längsseits mitlaufen.
Gleichzeitig klettert der Lotse des Frachters ungesichert zehn Meter die Jacobsleiter hinunter. Dabei öffnet sich unter seinen Füßen immer wieder ein gurgelnder Spalt, und die Scheuergummis des Tenders quietschen an der Stahlwand wie beim Autoscooter. Beide Schiffe fahren jetzt mit einer Geschwindigkeit von acht Knoten, aber der „Duhnen“ kann der Seegang nichts anhaben. Im richtigen Moment steigt der Lotse, unterstützt vom Bootsmann, an Bord. Ein letzter Gruß an die stoppelbärtigen Matrosen, abenteuerlich vermummte Gestalten, die uns von oben zuwinken, dann entfernen sich beide Schiffe rasch wieder voneinander.
Das Routinemanöver gestaltete sich mit den alten Versetzbooten noch weitaus riskanter. Bei deren Höchstgeschwindigkeit von sechs Knoten waren die großen Schiffe in der vielbefahrenen Wasserstraße gezwungen aufzustoppen, um dann für Minuten hilflos Wind und Strömung ausgesetzt zu sein. Manövrierunfähig wurden sie dabei gefährlich gegen das kleine Boot in Lee gedrückt; der Lotse musste von der Strickleiter aus in eine schaukelnde Nussschale umsteigen, die von jeder Woge emporgehoben und wieder fallengelassen wurde.
Ab sechs Windstärken, in der Deutschen Bucht keine Seltenheit, machte der Seegang die Operation unmöglich, und die Stationsschiffe zogen sich mit ihren Booten nach Cuxhaven, auf die so genannte Innenposition, zurück. Hubschrauber aus Mariensiel wurden gechartert, hievten die Lotsen von Bord, und rechneten nach Minuten ab. Wenn zusätzlich noch Nebel aufkam, war es auch für die Helikopter vorbei. Für sie sind Frachter in der Suppe schlicht unsichtbar. In solchen Fällen konnten die Lotsen auch erst in der Elbemündung bei Cuxhaven an Bord der einlaufenden Schiffe gebracht werden. Bis dorthin waren die Kapitäne auf sich gestellt – und damit oftmals überfordert.
Um die 16.000 Lotsungen führen die in diversen Bruderschaften organisierten „pilots“ jedes Jahr in der Deutschen Bucht und auf den einmündenden Flüssen und dem Nord-Ostseekanal durch. Die für das Versetzen nötigen Fahrzeuge werden dem Lotsenbetriebsverein dazu vom Bund zur Verfügung gestellt. Schon lange bemühten sich die Lotsen-Brüder um eine Erneuerung der mittlerweile über 35 Jahre alten Flotte, blieben aber in Bonn so lange unerhört, bis der Lotsenbetriebsverein seinerseits Kontakt zur Industrie aufnahm. Schließlich einigte man sich auf ein Leasingmodell mit privater Finanzierung der Neubauten. Dass die Wiking-Helikopter-Service GmbH mit zu den Geldgebern gehört, verwundert kaum, denn ein gewichtiges Argument, um die Behörden zu überzeugen, war wohl auch die zu erwartende Kostenersparniss beim Betrieb der SWATH-Schiffe: Sie benötigen weit weniger Boote und Besatzungen und machen in Zukunft die teuren Helikoptereinsätze durch ihre Einsatzfähigkeit bei rauher See überflüssig.
Nach einer europaweiten Ausschreibung ging der 73 Millionen Mark schwere Auftrag vor drei Jahren an die Traditionswerft Abeking & Rasmussen nach Lemwerder.
Dort hatte man bereits 1995 mit der Planung für diesen neuartigen Schiffstyp begonnen. Zwar stellt dessen Bau keine Pionierleistung dar, das SWATH-Prinzip wurde von einem Wiener Schiffbauingenieur in den USA entwickelt und dort auch schon gebaut. Denoch ist es jedesmal eine Spezialanfertigung, wie sie in Europa nur eine Hand voll Werften zu bauen in der Lage sind.
Die Ingenieure bei Abeking & Rasmussen benötigten annähernd einhundert Entwurfsschleifen, statt der üblichen fünf, bis die einzelnen Abteilungen ihre Entwürfe aufeinander abgestimmt hatten und Auftrieb, Trim und Gewicht im richtigen Verhältniss zueinander standen. Solche Rechenkünste sind heute überhaupt erst mit Hilfe moderner Computertechnik in einem angemessen Zeitraum zu verwirklichen.
Den Aufwand für die Werft sieht der technische Direktor Dr. Spethmann eher als Investition in die Zukunft. Sofort fallen ihm weitere Einsatzmöglichkeiten für das erworbene Know-how ein: Marine, Forschung, Zubringer, Ölscheichs; überall, wo Menschen an Bord arbeiten wollen statt auf allen Vieren zu kriechen. So musste die Menschheit mehr als zweitausend Jahre warten, bis sich ein Seebären-Traum erfüllt: Seefahrt ohne Seegang.
Das für die Zukunft vorgesehene Stationsschiff „Elbe“ liegt noch bis April dieses Jahres am Kai des ehemaligen Vulkangeländes gegenüber Lemwerder. Dort wird der in Wismar gefertigte Rohbau von A&R nach allen Regeln der Kunst ausgerüstet: feinste Bordelektronik, Ruheräume für Lotsen und Bootsmannschaften, die Kantine und natürlich eine Sauna sichern bald das Überleben auf der rauhen Nordsee.
Mit ihrer Indienststellung wird die „Elbe“ in der Nähe der auslaufenden Schiffe als Zwischenstation für die Lotsen dienen. Ihre zwei 7,5 Meter-Boote in den Davits sind für Ausholungen bei kleineren Schiffen vorgesehen, während die SWATH-Tender den einlaufenden Schiffen die Lotsen entgegenbringen, und somit ein zweites Stati-onsschiff nicht mehr benötigt wird. Doch bei aller Freude über die neue Technik mit all ihrem Komfort werden sie dann wohl auch einige ihrer Kollegen vermissen , mit denen sie einst auf den alten Lotsendampfern die enge, muffige Kabine geteilt haben mögen. Die sind dann schlicht überflüssig geworden und dürfen nunmehr Kosten sparen.
Olaf Liebert
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