: Mobiles Sitzen
Über ihre Epoche hinausweisende Manifestationen: Der Möbelhersteller TECTA aus dem Weserbergland folgt der Ästhetik der Moderne
Von Michael Kasiske
Ein gusseiserner Stuhl des 19. Jahrhunderts gesellt sich zu tief liegenden Fauteuils auf Rollen, ein Klappsitz aus gebogenem Blech steht aufrecht neben Freischwingern in Variationen – eine formale Linie ist bei TECTA nicht sichtbar, und jedes Möbelstück erscheint als eine eigene Welt. Eine überall greifbare im Gegensatz zum Kosmos der Raumschöpfungen ihrer berühmten Entwerfer: Karl Friedrich Schinkel, Alison und Peter Smithson, Jean Prouvé, die vielen Urheber des Stahlrohrstuhls.
Die Fahndung nach den Gemeinsamkeiten führt auf die Fährte eines Suchenden. Axel Bruchhäuser, mit Vater Werner Inhaber des mittelständischen Betriebs im Weserbergland, ist ein der Moderne verpflichteter Ingenieur. Das heißt, er sucht Antworten auf die Ansprüche der Benutzer und der Möbelfertigung: Form, Material und Verarbeitung, Wirtschaftlichkeit – in dieser Reihenfolge, doch muss ein Entwurf alles erfüllen, bevor er in Produktion geht.
Darüber plaudert Bruchhäuser beim Gang durch die Werkhallen. Bei der Beschreibung der Arbeitsgänge, beim Blick in die streng behütete Flechtwerkstatt – der Stolz der Firma – blüht Bruchhäuser auf. Die Absicht, zu zeigen, wie etwas funktioniert, folgt der Ästhetik der 20er-Jahre. Ein lang gestreckter, zum Innenhof und zur Landschaft hin verglaster Raum ist das „Möbellabor“, in dem an Prototypen gearbeitet wird. Die Konzepte übernimmt Bruchhäuser von Entwerfern, deren Ideen ihn überzeugen.
Ein Beispiel ist die Zusammenarbeit mit Stefan Wewerka, die sich im Ergebnis als ein winkeliges Möbelkabinett entpuppt. Wewerkas Leidenschaft für die Dekonstruktion des Stuhles hat Bruchhäuser in Bahnen gelenkt, an deren Ende ein unregelmäßig viereckiger, verblüffend eleganter Stuhl auf drei Beinen steht. Indem die geschwungene Lehne dem Sitzenden eine bequeme Ausrichtung nicht nur nach vorn, sondern auch zur Seite ermöglicht, regt der Stuhl die körperliche Hinwendung zu den Gesprächspartnern an; eine breite Verlängerung der Lehne sieht Platz für einen aufgelegten Arm vor. Ginge der Anspruch der Nutzer über das Sitzen in Reih und Glied hinaus, dieser Stuhl hätte das Zeug zur Revolutionierung.
Die Geschichte des Sitzens, so Bruchhäuser, ist eine Geschichte der Haltung. Das in der Nähe der Firma ansässige Stuhlmuseum Burg Beverungen geht auf seine Initiative zurück. Es ist vor allem der Genese des „Kragstuhls“ oder Freischwingers gewidmet, der wie kein anderes Möbel für die serielle Ästhetik moderner Gestaltung steht – die Variationen des Kragstuhles setzten sich bis heute in in die dritte Generation der Moderne fort.
Seit der Kragstuhl an Esstischen und in Konferenzsälen in anscheinend formaler Konvention irgendwie dazugehört, ist das einst Besondere zwar nivelliert. In den 20er-Jahren revolutionierte der Gestaltwechsel vom Vier- zum Zweibeiner allerdings das gewohnte Sitzmöbel: Die Übereinstimmung von maschineller Fertigung und rationeller Gestaltung ist offensichtlich, Hugo Häring überhöhte sie zu dem Diktum: „Einerseits stellen wir ansprüche an zweckerfüllung, andererseits ansprüche an einen ausdruck.“ TECTA ist dieser Tradition verpflichtet und hat die Bauhaus-Entwürfe von El Lissitzky, Marcel Breuer oder Walter Gropius wieder aufgelegt.
Der Trundling Turk steht dagegen für eine Entwicklungslinie im Werk von Alison und Peter Smithson. Erstmals entworfen in den 50ern, ist der Sessel im Unterschied zu dem Mobiliar der Moderne für mehrere Situationen konzipiert: Bequem und gleichzeitig leichtgängig rollend, erlaubt er ein Sitzen innerhalb der Spannbreite von Arbeitsplatz bis Kontemplation; seine breiten festen Armlehnen tragen mal Bücher und Schreibutensilien, mal Tasse und Teller.
Ungewöhnlich ist die geringe Sitzhöhe von 28 Zentimetern, die einem das vertraute Blickfeld entzieht. 20 Jahre später entwickeln die Smithsons Trundling Turk 2, der den legeren 70ern entspricht. Vier asymmetrisch liegende Kissen bilden den Sitz in einem Edelstahlchassis, an dem unsichtbar Rollen befestigt sind. Beide Entwürfe können erst genossen werden, seit Bruchhäuser sie in den 80er-Jahren in sein Programm aufnahm.
Die Sessel sind wie die Bauhaus-Entwürfe über ihre Epoche hinausweisende Manifestationen konzeptioneller Gestaltung. Im Rückschluss wird das Gemeinsame deutlich: die Mobilität. In diesem Geist wird das Programm von TECTA stetig erweitert. Vor kurzem wurde Trundling Turk 3 vorgestellt, jetzt mit konventioneller Sitzhöhe – „ein älterer Mensch“, so der 75-jährige Smithson, „sitzt gerne höher“ –, freilich immer noch unbeirrt und nun erst recht: rollend.
Stuhlmuseum Burg Beverungen (Hg.): „Der Kragstuhl“. 38 DM Flying Furniture: „Unsere Architektur rollt, schwimmt, fliegt“. Axel Bruchhäuser (Hg.): „Peter Smithson, Karl Unglaub“. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 48 DM TECTA-Möbel gibt es bei INTERNI, Potsdamer Str. 58, 10785 Berlin, Neue Wohnkultur, Hauptstr. 92-93, 12178 Berlin, und Modus, Wielandstr. 27-28, 10707 Berlin
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