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Sie hören die Informationsgesellschaft

■ Wir hören das komplette Radioprogramm der Bremer Region an. Im zehnten Teil unserer inzwischen unverzichtbaren neuen Serie im Dienste kompetenter VerbraucherInnenberatung: „NDR 4 Info“

Nie war so viel Radio wie heute. Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Wir stellen alle Programme vor. Heute trifft's das News-Flaggschiff des Norddeutschen Rundfunks „NDR 4 Info“.

„Nachrichten pur“ – mit diesen schlichten Worten betreibt das vierte Programm des Norddeutschen Rundfunks eine ebenso dezente wie übertreibungs-freie Eigenwerbung. Denn nichts weiter als das ist – von einigen kopflastigen Musik-Sendungen in den Abendstunden einmal abgesehen – „NDR 4 Info“.

Es strotzt nur so vor Meldungen, Interviews, Reportagen, Kurzberichten, Kommentaren, Presseschauen und was das Handbuch des Radiojournalismus noch so an Informationsformaten vorrätig hat. Auf kaum einer anderen Frequenz dürfte es so viele Worte pro Tag zu hören geben wie hier – es sei denn, man schaltet aus Versehen die Radio-Bremen-Übertragungen der Bürgerschaftssitzungen ein. Da wird auch viel gequatscht, aber NDR 4 setzt zum Glück viele kluge Moderatorinnen und Moderatoren ein, die dem Gerede ein wenig Struktur verleihen.

Diese Damen und Herren klingen im Schnitt erstaunlich jung, wagen auch mal ein paar spitze Bemerkungen in den fünf Zeilen niemals überschreitenden Knapp-Anmoderationen und sorgen dafür, dass man sich im Informationsdschungel schnell heimisch fühlt. Ein einheitliches Musikbett umschließt das Programm, die Erkennungsmelodie der Nachrichten ähnelt der der Rubrik Wirtschaft, die wiederum an das Sportthema erinnert und so weiter – ein Trick, um eine Klammer zu schaffen für ein im Grunde völlig heterogenes Programm, in dem es alle drei Minuten um etwas völlig anderes geht.

So viele Sendeplätze zu füllen, scheint allerdings gar nicht so einfach zu sein. NDR 4 wiederholt, was das Zeug hält; nicht, dass man in Leo-Kirch-Manier die Clinton-Lewinski-Geschichten aus Wa-shington wieder und wieder spielen würde. Nein, alles, was auf den anderen NDR-Wellen, ja in der ganzen ARD an harten Themen bearbeitet wird, bekommt der Hörer irgendwann auch hier zu hören. Zwar sind die Stücke oft abenteuerlich auf die richtige Länge, also nie mehr als dreieinhalb Minuten und am besten zweieinhalb, geschnitten. Dafür kann man aber sicher sein, wirklich alles mitzubekommen, was in Deutschland passiert und natürlich in der Welt.

Dazu unterhält die ARD ja ein teures Netz von Auslandskorres-pondenten. Wer wissen will, wie sinnvoll seine Gebühren angelegt sind, hat hier ausreichend Gelegenheit, das zu erfahren. Der engagiert mitleidende Luton Leinhos in Mexiko, der seriöse-schnarchige Wolfgang Bombosch in Stockholm, der präzise Hans Tschech in Tel Aviv und die energische Anke Mai in Wien, sie alle werden wenigstens einmal täglich zu Wort gebeten – eine Chance zum direkten Vergleich, die sich so komprimiert bei keiner anderen Station bietet.

Im Grunde also könnte man den ganzen Tag dran bleiben und sich mit Wichtigem, Erbaulichem, Skandalösem, Hoffnungsfrohem, Analytischem und Kritischem aus aller Welt berieseln lassen. Allerdings wird dieser Fluss an Weltgeschehen jede Viertelstunde durch die Nachrichten unterbrochen. Sie werden im Wechsel von in Ehren ergrauten Sprecherinnen und Sprechern trocken vorgetragen oder von den kecken Jungmoderatorinnen und –moderatoren als O-Ton-Nachrichten präsentiert. Die gelten als das modernere Informationsformat, man erkennt sie am Wechselspiel von Nachrichtensprechertexten, vorproduzierten Reportagenschnipseln oder aus Interviews abgegriffenen Politiker-Aussagen, und sind neben den Fernsehnachrichten einer der Gründe, warum alle Politiker krampfhaft versuchen, jede noch so komplexe Aussage in einen knackigen, dreißig-sekündigen Satz zu packen.

Weil aber nicht jede Viertelstunde der Finanzminister eines Bundeslandes zurücktreten kann und auf der Welt einfach nicht so viel Weltbewegendes passiert, wiederholen sich die Spitzenmeldungen natürlich unerträglich oft. Die Folge: Man kann oft fast schon mitsprechen, oder „Topmeldung raten“ spielen. Das geht so: Kurz bevor die Nachrichten anfangen, wettet man mit anderen oder mit sich selbst darum, ob nun die Greencard-Debatte immer noch als Erstes gebracht wird, oder ob nicht überraschend vor der Elfenbeinküste ein Flugzeug abgestürzt oder Phil Collins an Alzheimer erkrankt ist.

Natürlich gibt es nur wenige Menschen, die an sowas Gefallen finden. Alle übrigen Info-Hörer schätzen am Sender, was man auch an CNN oder NTV schätzt: Dass man immer, wenn man will, Nachrichten konsumieren kann, denn bis zum nächsten Block ist es nicht weit. Vorausgesetzt, man hält tiefer gehende Analysen, nachdenkliches Innehalten oder „nochmal drüber reden“ für entbehrlich. Denn NDR 4 Info ist nicht nur ein typisches Kind, sondern auch ein Spiegelbild der entstehenden Informationsgesellschaft. Wer kurz dran bleibt, bekommt schnell einen groben Überlick, den man aber leicht und gern mit dem totalen Durchblick verwechselt.

Und wer sich länger dem Nachrichten-Bombardement aus Fakten, Fakten, Fakten aussetzt, merkt, dass das Dauerfeuer mit ewig gleichbleibend oberflächlicher Intensität irgendwann jedes Nachdenken erstickt: Der perfekte Informations-Overkill. Politik, Wirtschaft und Co. stellen sich hier nicht als Prozess da, sondern als Ping Pong-Spiel. Der O-Ton-Schnipsel des Regierungssprechers zur Rentenreform, bei dem nur rüber kommt, dass sie sein muss, wird nach einer Weile gegen den des Oppositionsführers ausgetauscht, von dem man nur erfährt, dass das Konzept der Regierung falsch ist. Für das Warum ist kein Platz, wer die Macht im Land hat, schon gar nicht, und nicht mal für eine Zusammenfassung der bisher gelaufenen Diskussionen ist Zeit, denn bald schon wird wieder der Regierungssprecher ein O-Tönchen in die Welt und damit in die Nachrichten setzen, in dem er mitteilt, dass die Regierung trotzdem an den Reformplänen festhalten wird. Fazit: Wirklich schlauer wird man auch nicht davon, dass man von 6.00 Uhr bis 24.00 Uhr Nachrichten hört.

Lars Reppesgaard / Foto: A.K.

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