Empfinden, lieben eben

Elektrische Stühle Fehlanzeige: Wären die Werber der Berliner Kammerspiele doch schon mal früher in ihr Theater gegangen. Auch nach dem Relaunch sitzt man weiterhin bequem in Tassos „Aminta“

Bettina Hoppe spielt Silvia wie eine Männerfantasie über die so genannte emanzipierte Frau. Hart, unsinnlich, unempfänglich für Amintas Liebe

von ESTHER SLEVOGT

Die Werbung hatte etwas ganz anderes versprochen. Auf Plakaten und Anzeigen, die im Laufe des Winters in der Stadt auftauchten, als überall die neuen Intendanten schon in den Startlöchern auf ihr Publikum lauerten, waren ausschließlich gefährliche Stühle abgebildet: ein Zahnarztstuhl, ein Sitz in einer Achterbahn zum Beispiel. Und als Krönung ein elektrischer Stuhl. Schock und Verstörung, war die Botschaft, business as usual also. Mit all den Liebeskranken und Weltschmerzwehen, denen man dann im letzten Monat in den neuen Kammerspielen des Deutschen Theaters begegnen konnte, hatte das nichts zu tun.

Wären doch die Werber vorher schon mal in die Kammerspiele gegangen, beispielsweise im November. Da hatte Stefan Otteni ein Stück von Moritz Rinke inszeniert. Aus dem alten Guckkasten war noch keine Arena geworden. Der Kammerspiel-Relaunch stand noch bevor. Aber auf der Bühne war plötzlich ein Regieassistent namens Felix und träumte von einem Menschheitsmoment. Weil solche kostbaren Augenblicke im wirklichen Leben nicht mehr zu haben sind, suchte er sie im Theater. „Das Ganze ist verloren gegangen“, sagte Felix traurig, und das Theater ist natürlich eine letzte Insel der Träume in dieser seelenlosen Welt. Was Felix, der von Guntram Brattia gespielte Regieassistent in Rinkes verschrobenem Drama „Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte“, befand, konnte man durchaus als Programm verstehen. Ein Programm, mit dem Stefan Otteni und Martin Braucks angetreten sind, die Kammerspiele zu renovieren.

Als dann im Februar Baucks und Otteni Musils „Schwärmer“ in die frisch eröffnete Arena schickten, da war gleich klar: Auch hier verzweifeln welche auf der Suche nach jenen Menschheitsmomenten. Suchen nach Gefühlen und Empfindungen und setzen Hoffnung in die Liebe als eine letzte Utopie. Bloß haben sie eben das Fühlen verlernt und damit auch die Liebe. Deswegen ist Ottenis Schwärmern eigentlich nicht zu helfen. Letzlich auch, weil Otteni ihnen all ihre schönen Worte glaubt.

Am Wochenenende ist dann schließlich Amor selber in den Kammerspielen erschienen, die Narben der ausgerissenen Flügel noch auf dem Rücken sichtbar. Der Liebespfeil steckt ihm in der Brustwarze. Irgendwann wird er ihn herausziehen und der gefühllosen Silvia mitten ins Herz jagen. Silvia, die zwar eine antike Nymphe, aber eigentliche eine Frau von heute ist. Sie jagt lieber in den Wäldern Wölfe, statt zu lieben. Und Bettina Hoppe spielt sie, wie eine Männerfantasie über die so genannte emanzipierte Frau. Hart, unsinnlich und völlig unempfänglich für Amintas Liebe. Ihr Herz wird erst von Amors Liebespfeil getroffen und erweicht, als Aminta sich ihretwegen umgebracht hat. Doch dann ist es natürlich viel zu spät.

Es ist François-Michel Pesenti, der „Aminta“ inszenierte, ein arkadisches Hirtenspiel des italienischen Renaissancedichters Torquato Tasso, den man sonst eher als Theaterhelden Goethes kennt. Aber von Arkadien keine Spur. Unter einer Konstruktion, die der Dunstabzugshaube einer Großküche ähnlich sieht, reden auf nacktem, metallischem Boden ein paar Nymphen und Hirten von etwas, was sie nicht können: lieben eben. Bloß Aminta (Roman S. Pauls), den hat es erwischt. Aber dies Gefühl verkrampft ihn eher und treibt ihn schließlich in den Tod. Das ist nicht ganz, wie Tasso sich das Ende der Geschichte dachte. Bei ihm geht sie nämlich am Schluss doch gut aus.

Ins Konzept der neuen Kammerspiele passt ein Happy End vorläufig nicht. Da wird jetzt erst mal gnadenlos der Stand der Dinge in Sachen Liebe auf den Punkt gebracht. Und damit auch die Frage gestellt und gleich beantwortet: Warum man ins Theater gehen soll. Nicht, um die eigene Hinrichtung zu erleben, wie es die Werbung verspricht. Sondern um wieder sehen, hören und empfinden zu lernen. Theater als Therapie. Happy End frühestens nach zwei Spielzeiten und bei regelmäßiger Anwendung. Bloß, wo so viel emphatisch geliebt und gefühlt wird, da beschleicht einen plötzlich doch ein gewisses Unbehagen, ob das nicht zu wenig ist, zur theatralischen Befragung und Bewältigung der Zeit. Ob das bürgerliche Theater, zumindest in den Kammerspielen, nicht vielmehr ohnmächtig wieder da angekommen ist, wo es im vorletzten Jahrhundert mal losgegangen ist: beim Fühlen statt beim Denken und Handeln.

Dass zu viel Gefühl durchaus einschränkend wirken kann auf manche Hirnfunktionen, war nämlich bei allen Produktionen deutlich zu erkennen, die sich mit Politik und Konkreterem als purer Empfindung befassten. Ob es nun Aureliusz Smigiels unbedarfte Inszenierung von Biljana Srbljanović’ preisgekröntem Stück „Familiengeschichten. Belgrad“ war oder Stefan Ottenis völlig zahnlose „Spiegel“-Geschichte, mit der er wohl einen Hauch von Volksbühnen-Anarchie ins Deutsche Theater bringen wollte. Vier Schauspieler lesen und spielen nun immer freitags aus dem Spiegel von Montag vor. „Was ist heute konservativ?“, war die Frage vorletzten Montag gewesen. Also trat ein befracktes Adenauer-Phantom (launig: Horst Lebinsky) auf und imitierte leidlich kölschen Dialekt, der manchmal auch etwas russisch klang. (Dabei sind die Bonner jetzt so nah!) Eine hellblau kostümierte Angela Merkel (Cornelia Schirmer) parliert mit ihm über dies und das. Mal ist sie die Merkel, zweiundvierzig, mal Anne Woods, die Erfinderin der Teletubbies, die dann auch pflichtschuldig ihren Auftritt via Filmeinspielung haben, gefolgt von den obligatorischen „Big Brother“-Einspielungen. Schließlich will man aktuell sein auf dem Theater. Aber auf den bloßen Konsens unter Bildungsbürgern – was nun als blöd gilt und was nicht – ist mitunter kein Verlass. Da schadet etwas Hirnarbeit auf keinen Fall. Am Ende steht man sonst bloß selbst als der Dumme da.