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HipHop und helles Licht

Der französische Regisseur Jacques Doillon folgt einer Clique Jugendlicher und einem Pitbull durch die Pariser Banlieue. Sein Film „Petits Frères“ ist eine Sommererzählung aus den Vorstädten

Jacques Doillon geht es immer um den einzelnen wahren Moment. Deshalb hat man in seinen Filmen das Gefühl, mittendrin zu sein..

von ANKE LEWEKE

Was für eine Liebeserklärung: Iliès opfert sein gutes Lacoste-Sweatshirt, um die Pitbull-Hündin seiner Freundin darin einzuwickeln und angemessen zu begraben. Eine Geste, die schön ist, weil sie stimmt.

Jacques Doillons Kino ist eine beständige Suche nach solchen Momenten und Situationen. Nähe und gleichzeitige Diskretion – diese Haltung bringt er seinen Figuren entgegen. Allein schon mit der Kamera. In „Der junge Werther“ lässt er sie einfach zusammen durch Paris laufen, die Kamera und die jugendlichen Darsteller, um die Welt hinter den Worten, um das Denken hinter den Gesprächen zwischen Schule und zu Hause aufzuspüren. Um herauszufinden, was in den Köpfen der Dreizehn- bis Vierzehnjährigen vorgeht, die sich gerade mit dem Selbstmord eines Freundes konfrontiert sehen.

In „Ponette“ stellt sich die Kamera ein auf die Trauer eines fünfjährigen Mädchens um seine Mutter, indem sie den Verlust aus der Augenhöhe der Kleinen wahrnimmt. Aus dieser Perspektive wirkt das Grab erst recht gewaltig.

Bei Doillons Exkursionen in das Denken und Fühlen von Cliquen, Freunden und ersten Liebenden geht es nicht ums Reindenken, Beobachten oder Verstehen. Weil die Wahrnehmung seiner Filme identisch mit der Wahrnehmung der Figuren ist, hat man bei ihm immer das Gefühl, mittendrin zu sein – ob in einer Kindergartengruppe in der französischen Provinz, zwischen den Schülern eines schnieken Pariser Arrondissements oder in einer Gang von Heranwachsenden, die durch die heruntergekommene Banlieue streunt. Hochtrabend könnte man auch von einem Kino der Natürlichkeit sprechen. Unter diesem Schlagwort packte auch die französische Presse Doillons erste in den frühen Siebzigerjahren entstandenen Filme. Auch wenn die Recherche den Regisseur zu Originalschauplätzen führt, er häufig mit Kids aus dem Milieu arbeitet, sich monatelang mit ihrer Sprache vertraut macht, geht es um mehr als einen bloßen naturalistischen Effekt. Präzision und Rekonstruktion nicht als Widergabe einer Wirklichkeit, vielmehr als Methode, um zu einzelnen wahren Momenten vorzudringen.

Lässiger HipHop, strenge Rituale, Sprachcodes, markige Klamotten und Knarren gehören zum Alltag von Doillons neuen Helden. Doch in „Petits Frères“ sind sie gerade nicht Genre-Merkmale eines „Kids in the Ghetto“-Films. Schon das helle, warme Licht entfernt sie vom verbrauchten Popularmythos, gibt dem Film eher den Anschein einer Sommererzählung aus den Vorstädten. „Petits Frères“ – „Kleine Brüder“, so nennt man in der Pariser Banlieue noch nicht strafmündige Kids, die für die Älteren Deals, Diebstähle und andere Drecksarbeiten erledigen.

Iliès hat diese Rangfolge bereits für sich akzeptiert und gibt sie nach unten weiter. Das Lacoste-Sweatshirt für die Beerdigung des Hundes lässt er sich jedenfalls von einem kleinen Knirps bringen. Auch in den Wohnungen haben die Brüder das Sagen, weil die Eltern wie von der Bildfläche verschwunden scheinen.

Wie beiläufig wird die Welt vor der Kamera zu einer eigenen – mit ungeschriebenen Gesetzen, Grenzen, Tabus. Zwei, drei sich wiederholende Einstellungen reichen, um den Alltag in den Betonwüsten festzuhalten. Andere Jugendliche werden von ihren Mofas oder Fahrrädern heruntergezerrt, die man umgehend verscherbelt. Ansonsten hängt man ab und wartet, dass irgendwas passiert. Solche Einblicke sind Doillon wichtiger als eine geradlinige Geschichte.

„Petits Frères“ kreist um die Suche des Mädchens Talia nach Kim, ihrer Pitbull-Hündin. Es ist eine Reise aus dem heruntergekommen Teil des Pariser Bezirks Belleville in die Betonghettos jenseits des Boulevard Périphérique. Und eine Reise ins Erwachsenwerden, zur ersten Liebe, auch wenn Talia das als Allerletzte wahrhaben will. Für die Göre wird die Expedition in fremde Reviere zu einer Reifeprüfung, bei der sie auch mit den rassistischen Vorurteilen der Eltern Schluss macht.

Auch wenn Jacques Doillon (und wir mit ihm) eine tiefe Verbundenheit zu der Clique um Talia entwickelt, irgendwann müssen seine Kids wieder alleine ihres Weges gehen. Deshalb verweist „Petits Frères“ immer wieder auf eine Zukunft jenseits des Films.

Die rauschende Hochzeit in Weiß mit geklautem Esel, Gekicher, Gesang und glücklichen Gesichtern wird von der gnadenlos realistischen Einschätzung der Jugendlichen eingeholt. Nicht Ringe, sondern Adressen werden ausgetauscht. Denn Talia und ihre jüngere Schwester müssen demnächst in einem Erziehungsheim leben. Und wenn die Jungs in diesem Film von einer Familie träumen, dann, damit sie jemandem schreiben können – später, aus dem Gefängnis.

„Petits Frères“. Regie: Jacques Doillon. Mit: Stéphanie Touly, Iliès Sefraoui, Mustapha Goumane. Frankreich 1998. 92 Min.

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