Befehlsverweigerung oder Flugzeugabsturz

Was verhinderte im Juni 99 die militärische Auseinandersetzung zwischen der Nato und Russland um den Flughafen Pristina?

GENF taz ■ Was geschah wirklich am 11. Juni 1999, als Nato-Einheiten der KFOR in das Kosovo einrückten und zugleich 200 russische Soldaten den Flughafen von Priština besetzen wollten? Zu dieser bis heute nicht geklärten Frage hat der US-Luftwaffenoffizier und ehemalige Spion bei der Nato Informationen, die im Widerspruch zur bisherigen offiziellen Version der Allianz stehen. Diese offizielle Version wurde im Zusammenhang mit der Geschichte über den Spionage-Untersuchungsbericht des Pentagon gestern noch einmal im britischen Guardian aufbereitet: Danach forderte der Nato-Oberkommandierende, US-General Wesley Clark, unterstützt von Generalsekretär Janvier Solana zunächst 500 britische und französische Soldaten an, die den Flughafen besetzen und notfalls gegen die anrückenden Russen verteidigen sollten.

Doch der britische KFOR-Kommandeur General Michael Jackson weigerte sich in Absprache mit seiner Regierung in London am 11. Juni, Clarks Befehl umzusetzen. „Das mache ich nicht. Das ist es nicht wert, den dritten Weltkreig zu beginnen“, soll der Brite den Amerikaner angebrüllt haben, berichtete Der Spiegel im Januar. Auch ein zweiter Befehl Clarks, das Rollfeld des Flughafens mit britischen Panzern zu blockieren, wurde von General Jackson verweigert.

Der US-Luftwaffenoffizier bestätigt hingegen die Version, die Mitte Februar die niederländische Rundfunkanstalt VPRO und der Militärspezialist Professor Rob de Wijk veröffentlichten. Danach war am 11. Juni eine geheime militärische Blitzaktion der Nato zur Besetzung des Flughafens von Priština rechtzeitig vor Ankunft der Russen bereits angelaufen. Doch die Aktion schlug fehl, weil ein britisches Hercules-Transportflugzeug beim Start in der nordalbanischen Stadt Kukës verunglückte. Die Maschine „XV 298“ einer der auf dem Stützpunkt Lyneham beheimateten Transporteinheit „47 Squadron“ der britischen Luftwaffe hatte den Auftrag, schweres Material, Munition und Mitglieder der britischen Sonderheiten SAS (Special Air Services) in Priština abzusetzen. Hier waren nach einer vom Pentagon veröffentlichten Pressemeldung zu diesem Zeitpunkt bereits britische und amerikanische Fallschirmjäger gelandet. Doch die Hercules-Maschine erreichte beim Start in Kukës nicht genug Höhe und prallte hinter der Startbahn gegen ein Gebäude. Der Transport von SAS-Einheiten gehört zu den Aufgaben der „47 Squadron“. Auch ist hinreichend dokumentiert, dass die SAS im Kosovo im Einsatz war. Der Kommandant des „47 Squadron“ in Lyneham, Willy Dobsen, hat das Unglück vom 11. Juni bestätigt. Allerdings behauptete er, die Maschine sei nicht nach Priština, sondern nach Italien unterwegs gewesen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums in London erklärte hingegen, das Flugzeug habe einen „Übungsflug über Makedonien“ machen wollen. Nato-Sprecher Jamie Shea konnte Mitte Februar „keine Auskunft“ auf die Frage nach dem Auftrag der Maschine geben. Seine damalige Zusage, die Informationen zu beschaffen, hat Shea bis heute nicht eingelöst. Das Pentagon zog am 11. Juni seine eigene Pressemeldung, wonach amerikanische und britische Fallschirmjäger bereits in der Nähe des Flughafens Priština gelandet waren, wenige Stunden nach dem Absturz der Hercules-Maschine kommentarlos zurück. Stimmt die Version von der durch einen Unfall gestoppten Blitzaktion zur Besetzung des Flughafens, dann hätte es im Juni 19999 tatsächlich beinahe eine militärische Auseinandersetzung zwischen Russland und der Nato gegeben. In einem Interview mit der BBC, das am Sonntag ausgestrahlt wird, erklärt der russische General Leonid Iwaschew: „Wir hatten damals verschiedene Luftwaffenstützpunkte in Alarmbereitschaft versetzt und mehrere Bataillone abflugbereit nach Priština.“ANDREAS ZUMACH