: Uterale Lotterkammern
Verflüssigung der Formen, Regression des Wohnens: In Weil am Rhein widmet sich eine Retrospektive dem Werk des Dänen Verner Panton, einem der einflussreichsten Designer der 60er
Von DIETRICH ROESCHMANN
Kein Stuhl muss laufen können, kein Sofa muss durch die Gegend spazieren. Wozu also brauchen Sitzmöbel Beine? Zu nichts – außer vielleicht, um Verner Panton zu ärgern. Anfang der Fünfzigerjahre war dem dänischen Designer aufgefallen, wie sehr sich das durchschnittliche Wohnzimmer seiner Zeit nach der Natur sehnte. Kein Quadratmeter, aus dem nicht irgendein Stuhlbein aus dem Teppich wuchs. Tische, Kommoden, Regale – alles thronte auf vier hölzernen Stämmchen, die sich hochgerechnet schnell zu einer kleinen Kiefernschonung addierten.
Mit seiner Aversion gegen diese geschreinerte Natur stieß Panton zunächst auf Unverständnis. Seine Idee, den Stuhl zu amputieren, galt als rebellische Fantasie, eine Chance gaben ihr aber nur wenige. Zu erfolgreich war der freundliche Funktionalismus, der skandinavisches Fünfzigerjahredesign prägte.
Panton, der in Kopenhagen Architektur studiert und sich Mitte der Fünfzigerjahre als Designer selbstständig gemacht hatte, ließ sich von seiner Idee nicht abbringen. Dem Stuhl die Beine zu nehmen bedeutete für ihn, ihm seine starre Form, seine eindeutige Funktion zu nehmen. Aus dem Sitzgestell sollte eine Skulptur werden, aus Möbeln Kunst mit Gebrauchswert. „Gestaltung bedeutet, Funktionelles in Empfindungen umzusetzen“, formulierte er – und benannte damit, was für das Popdesign des folgenden Jahrzehnts ein zentrales Anliegen wurde: Es ging um die Mystifikation des Gebrauchsgegenstands. Darum, das Banale mit Form und Farbe so weit aufzuladen, bis ein Sessel nicht mehr von einer Seifenblase zu unterscheiden war und eine Tapete nicht von einem LSD-Rausch.
Wie sehr seine frühen Arbeiten auf diese Verflüssigung der Wohnformen hintrieben, lässt sich in einer umfassenden Retrospektive des 1998 gestorbenen Designers nachvollziehen, die das Vitra Design Museum in Weil am Rhein zeigt. Unter Pantons gestalterischer Regie verlor das einzelne Möbelstück zunehmend an Bedeutung, seine Konturen schmolzen dahin und diffundierten in ein System aus Farben und Formen, dem schließlich jeder Quadratzentimeter des Raums unterworfen wurde. Plane Flächen und rechte Winkel wurden zu Wellen, Kurven, Rundungen und Dellen, das dezente Pastell skandinavischer Innenräume wich einem grellen Mix aus Rot, Orange, Blau und Violett.
Den ersten internationalen Erfolg feierte Panton 1958 mit seinem Tütenstuhl, einem auf der Spitze stehenden Stahlkegel, aus dem er den Boden herausgesägt und ihn durch eine gepolsterte Sitzfläche ersetzt hatte. Dass so ein Stuhl in kein herkömmliches Wohnzimmer passte, war für Panton kein Problem. Gerade weil er dort zunächst wie ein Fremdkörper herumstand, wirkte er wie der Fuß in der Tür zu zukünftigen Wohnformen.
Die Forschung im Bereich der Werkstofftechnik kam diesem Interesse entgegen. 1952 entdeckten die Ingenieure Guilio Natta und Karl Ziegler ein neues Material: Es hieß Polypropylen und war der erste Kunststoff, der selbsttragende Konstruktionen ermöglichte. Er war billig, leicht und beliebig einfügbar, ein Stoff, dessen Eigenschaften durch das Herstellungsverfahren in bislang ungekannter Weise beeinflusst werden konnten. „Plastik ist weniger eine Substanz als vielmehr die Idee ihrer endlosen Umwandlung“, bemerkte Roland Barthes 1957. Ein Material, das – anders als Holz oder Naturfasertextilien – dem Geist des Menschen und nicht dem der Natur entsprang.
Als Natta und Ziegler für ihre Entdeckung 1963 den Nobelpreis erhielten, hatte Panton dem Kunststoff bereits eine konkrete Form gegeben. Sein 1959 entwickelter Freischwinger, der „Panton Chair“, galt als wegweisender Entwurf eines aus einem Stück gefertigten Stapelstuhls und bot einen exemplarischen Beleg für Barthes’ These, Plastik sei „die erste magische Materie, die zur Alltäglichkeit bereit ist“. Mit über 300.000 verkauften Exemplaren zählt er heute längst zu den Klassikern der Möbelgeschichte.
Zugleich war der „Panton Chair“ die Stuhl gewordene Auflösung der hergebrachten Ordnung. Um der starren Hierarchie von Sofa- und Sesselarrangements zu entkommen, entwarf er Wohnlandschaften, die sich aus mehreren Schaumstoffmodulen in beliebiger Kombination zusammensetzen ließen. Es entstanden basisdemokratische Sitzwiesen, so bodennah, dass eine lässige Körperhaltung fast unumgehbar wurde, und so ausladend, dass der Raum, in dem sie standen, plötzlich wie die unendliche Verlängerung der Couch wirkte. Aus dem Boden wucherten bunte Teppiche mit geometrischen Mustern, von den Wänden leuchteten Kunststoffreliefs oder Textiltapeten in den Farben der Pantonskala. Lampen aus freischwebenden Glasplättchen gaben ein dämmriges Licht, das mit jedem Luftzug seine Nuance änderte. Drastischer als diese Mixtur aus Neobarock, Höhlen- und Raumschiffdesign konnte der Aufstand gegen die Gediegenheit des bürgerlichen Wohnzimmers kaum ausfallen.
Es war ein Design, das auf hermetische Endgültigkeit zielte. Schon der 1958 von ihm entworfene Innenraum eines Restaurants im dänischen Langeso zeugte vom Willen zur totalen Durchgestaltung: Sämtliche Möbel, die gesamte Auslegware, alle Wände, Gardinen, Tischdekorationen und Uniformen der Kellnerinnen waren in hypnotischem Rot gehalten. Im Trondheimer Restaurant „Astoria“ ersetzte er die Monochromie 1961 durch ein an der Op Art geschultes System der Muster und Formen, unter dessen Diktat er 1969 auch die Redaktions- und Gemeinschafträume im Hamburger Spiegel-Verlagshaus gestaltete.
Eines seiner bemerkenswertesten Interieurs gelang Panton 1970 mit seinem Beitrag zur „Visiona“-Ausstellung der Bayer AG. Die Auftragsarbeit war mit der Auflage verbunden, Kunststoff ins Zentrum der Gestaltung zu rücken. Das Ergebnis, die „Phantasy Landscape“, ist in einem originalgetreuen begehbaren Nachbau in Weil am Rhein zu erleben: Durch ein rundes Loch gelangt der Besucher in einen acht mal sechs Meter großen Raum, der im Innern vollständig mit wellenartig ineinander fließenden Polstermodulen ausgestattet ist. Wände, Decke und Boden sind mit pflegeleichten Stoffen in Pantons Lieblingsfarben bezogen, zwischen dem Gewebe schummert verborgenes Licht hindurch. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Regal. Die „Phantasy Landscape“ ist die Radikalisierung des Designs zur totalen Regression des Wohnens: Eine uterale Lotterkammer, in der zum finalen Glück eigentlich nur der über Endlos-Loop eingespielte Herzrhythmus fehlt.
Damit war Panton an einem Punkt angelangt, an dem sein Design sich ins Museum verabschiedete. So sehr hier Wärme, Wollust und Muße regierten, so hermetisch war zugleich die durchdachte Ordnung dieses Polsterorganismus, die keinen Widerspruch und keinen Eingriff möglicher Bewohner duldete.
Die „Phantasy Landscape“ war eine künstlerische Position, der Alltag des Wohnens wurde woanders verhandelt: Als Ikea 1974 in München die erste Filiale außerhalb Schwedens eröffnete, waren Pantons Entwürfe bereits Geschichte. Neben den tausendfach kombinierbaren Elementen dieser Do-it-yourself-Moderne wirkten seine Interieurs plötzlich nur noch aufdringlich, starr und unangemessen.
Verner Panton – Retrospektive. Vitra Design Museum, Weil am Rhein. Bis 12. Juni 2000. Ein Katalog erscheint im Mai 2000, ca. 300 Seiten, 58,00 DM
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