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Versuch einer Kanonisierung

Das „Kursbuch Medienkultur“ wagt erfolgreich einen Überblick zur Medientheorie. Letztlich aber scheitert dieses ambitionierte Projekt am Konservatismus der akademischen Theorieanstalten

von STEFFEN GRIMBERG

Voraussetzung einer wissenschaftlichen Diziplin ist das Vorhandensein einer mehr oder minder geschlossenen Theorie, die sie von den anderen Abteilungen der akademische Welt abgrenzt. Und da hat sie es nicht leicht, die Medienwissenschaft: Publizistik, Kommunikationswissenschaften, in neuerer Zeit auch Journalistik und eine den angelsächsischen Cultural Studies verpflichtete Kulturwissenschaft besetzen – mal mehr, mal weniger – mediales Terrain. Vermutlich deshalb geben sich die Herausgeber des „Kursbuchs Medienkultur – Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard“ so distanziert und beteuern, ihr Werk solle „vor allem als Vorschlag verstanden werden“.

Und den kann man getrost annehmen. Was hier auf über 500 Seiten zusammengefasst ist, deckt den Kanon der großen weiten Medienwelt ab – vorwiegend indes auf der Metaebene denn im konkreten Detail. Historisch wird der Bogen gespannt von Brechts „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“ (heute meist zur „Radiotheorie“ verballhornt) bis zum Postrukturalismus und zur médiologie französischer Prägung Ende der Achtzigerjahre.

Allerdings: Die Zukunft fehlt, die Vokabel „Internet“ taucht nirgends auf. Entstanden ist das Buch an der Fakultät Medien der Bauhausuniversität Weimar, und in den einleitenden Beiträgen der Herausgeber scheint sie durch, diese kühle bauhäuslerische Sachlichkeit.

Ausgangspunkt ist ihnen in erster Linie die Kultur, „dabei kommt es weniger darauf an, ob man ‚Kultur‘ denkt (...) als Figuration von Erkenntnis- und Verhaltensgewohnheiten, als alltäglich empirisch reproduzierten Horizont von Kommunikations- und Verkehrsverhältnissen oder als Produktionszusammenhang in den höheren und niederen Sparten des Kultur- und Kunstbetriebs und der Unterhaltungsindustrie. In allen Fällen ist Kultur nicht denkbar ohne Medien.“

Der kaum begrenzte Medienbegriff, der weit über die Massenmedien wie Buch, Presse oder Rundfunk hinausgeht, eröffnet eine Annäherung an die Medienkultur aus teils unterschiedlichen, teils aufeinander aufbauenden Richtungen: von den Versatzstücken der Medientheorie wie Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ über Marshall McLuhan und die Systemtheorie Niklas Luhmanns geht die Auswahl über Grundlegendes zu Fragen von Schrift, Sprache und den Medien als Transportmittel bis zu den inhaltlicher orientierten Arbeiten von Neil Postman oder John Fiske.

Ein zweiter Abschnitt widmet sich der medialen Wahrnehmung, aber auch der Diskussion einer „Technologie des Unbewussten“ bis hin zur Darstellung der postmodernen Leitwissenschaften Informatik und Kybernetik im Zuge der „Informatisierung“ der Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei begegnen dem Leser neben bekannten Gesichtern (Adorno, Enzensberger, Parsons, Virilio) in medialen Gefilden eher unerwartete Protagonisten wie Sigmund Freud, Martin Heidegger oder Konrad Zuse, was den Reiz, aber auch die Komplexität des Vorhabens, hier eine „vorsichtige Kanonisierung“ der Medienwissenschaft einzuleiten, erhöht.

Problematisch sind dabei die jeweiligen Einleitungskapitel der Herausgeber, die knapp Texte und Autoren präsentieren und einordnen, für wenig vorbelastete Leser aber häufig zu dicht und schlicht zu kurz sind. Gerade wegen des breit gefächerten Spektrums wären auch biografische Notizen zu den versammelten Theoretikern hilfreich. Auffallend am „Kursbuch“ ist auch, dass es zum Ende hin dünne wird. Überlegungen zur Konvergenz von klassischen Massenmedien, insbesondere in Sachen Rundfunk und Internet, sind nur angedeutet.

Am Ende der Postmoderne präsentiert sich so auch die Medientheorie eher abwartend und unentschlossen. Das wundert – zumindest auf Deutschland bezogen – kaum, schließlich ist hierzulande die Trennung zwischen Theorie und Praxis (fast) perfekt umgesetzt. Medienmacher halten sich eben ans Machen, Medienkritik und -theorie verharren dagegen in einer bestenfalls ablehnend-überholten Haltung zu den Massenmedien der Moderne, insbesondere dem Fernsehen. Die „Heimatlosigkeit des Intellektuellen“ in der Fernsehwelt, die Lutz Hachmeister schon 1990 im Freibeuter konstatierte, hat sich ins neue Jahrtausend hinübergerettet.

Nicht zuletzt, weil die wissenschaftliche Diskussion, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die reale Medienpraxis nicht mitdenken kann oder will. Und diese Theoriefreiheit gilt nicht nur für die ProgrammmacherInnen, sondern für Medienpolitik und -wirtschaft gleich mit – vielleicht wirkt deshalb die Debatte zum Thema: „Was darf das Fernsehen“, so unbeholfen und surreal.

Besserung ist nicht in Sicht, zehn Jahre später konstatiert Hachmeister im „Grimme-Jahrbuch Fernsehen“: „Medienpolitische oder -wissenschaftliche think tanks gibt es in diesem Lande nicht. Von der anämischen akademischen Medienwissenschaft sind konstruktive und wirkungsvolle Impulse auch nicht zu erwarten. Empirische Detail- und Auftragsforschung sind Beschäftigungstherapie für die eine Hälfte der universitären Medienforscher, die andere gibt sich der Exegese abstrakter Großtheorien und dem verspäteten Import ausländischer Vorbilder hin. Diese Form der Medienanalyse bietet keine Reibungsfläche, keine Herausforderung für die Praxis.“

Zumindest per Selbststudium kann dem Theorieverlust jetzt etwas abgeholfen werden, auch wenn das „Kursbuch Medienkultur“ notwendigerweise nur den Status quo nachzeichnen kann.

Claus Pias (Hrsg. u. a.): „Kursbuch Medienkultur – Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard“. DVA, Stuttgart 1999, 544 Seiten, 49,80 DM

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