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Es gab keine Strahlen aus leisen Kanonen

Mehrere Dissidenten der DDR starben in den vergangenen Jahren an Krebs. Seither keimte der Verdacht immer wieder neu: Hatte die Stasi sie mit Röntgenstrahlen verseucht? Ein neues Gutachten widerlegt diese Annahme nun

JENA taz ■ Der Staatssicherheitsdienst der DDR hat wohl niemals Häftlinge hoch dosierter Röntgenstrahlung ausgesetzt, um bei ihnen Krebs zu erregen. Ein jetzt vorgelegtes Gutachten räumt auf mit einem zehn Jahre lang schwelenden Verdacht, der ehemals Inhaftierte nicht mehr ruhig schlafen ließ.

Dabei passte alles so gut zusammen: Bei der Erstürmung der Geraer Stasi-Haftanstalt im Dezember 1989 hatte ein Bürgerkomitee im Fotoraum ein hinter einem Vorhang verstecktes Röntgengerät entdeckt. Ein kleiner Dreh genügte, um es in Höhe des Kopfes eines vor dem Vorhang sitzenden Häftlings auszurichten. Das Foto mit dem bedrohlich wirkenden Strahler und dem Stuhl davor wurde wieder hervorgeholt, als im Mai vergangenen Jahres der Schriftsteller Jürgen Fuchs starb – an Blutkrebs.

Der Regimekritiker war 1976/77 in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert. In diesem Gefängnis wurde eine solche Anlage nicht entdeckt. Aber die Vermutung stand im Raum, und nun wurden auch Todesfälle anderer ehemaliger Häftlinge hinterfragt: Was hatte das MfS mit dem Tod von Rudolf Bahro (Blutkrebs; 1997) und Gerulf Pannach (Nierenkrebs; 1998) zu tun?

Der Dresdner Publizist Michael Beleites war 1989 Mitglied des Geraer Bürgerkomitees, das schon damals misstrauisch geworden war. „Wenn es so wäre, hätten wir das Ding doch weggeräumt, bevor ihr kamt“, habe ein MfS-Offiziere geantwortet. Ein Funktionstest bestätigte dessen Aussage, dass die Röntgenanlage der Durchleuchtung von Bekleidungsgegenständen diente. Beleites’ Gutachten, das er im Auftrag des Thüringer Landesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit erstellte, schließt nun jede darüber hinaus gehende Nutzung aus: „Stärke, Qualität und Dauer der Bestrahlung genügten, um die Bekleidung zu durchleuchten, nicht aber, um Spätschäden auszulösen“, sagte der Autor bei der Vorstellung seines umfangreichen Dossiers in Jena.

Schon im Dezember 1999 hatte die Staatsanwaltschaft Erfurt ein Gutachten vorgelegt, nach dem im Geraer Fotoraum keine überhöhte Strahlenbelastung festgestellt werden konnte. Wenngleich eine missbräuchliche Strahlenanwendung im Sinne einer vorsätzlichen Schädigung nun ausgeschlossen werden könne, muss Beleites zufolge dennoch eine fahrlässige Strahlenschädigung von Zielpersonen der Stasi „durch radioaktive Markierungen bei konspirativen Ermittlungen“ als wahrscheinlich angesehen werden.

Die Möglichkeit einer radioaktiven Verstrahlung durch das MfS hatte Jürgen Fuchs auch schon in seinem autobiografischen Roman „Magdalena“ angesprochen: „Strahlen aus leisen Kanonen? Radioaktive Sächelchen im Essen, im Trinken?“ Jürgen Fuchs hatte zudem ausführlich aus der 1987 vom Institut für Kriminalistik der Humboldt-Universität Berlin für das MfS erstellten Toxdat-Studie zitiert, die „kriminalistisch relevante Vergiftungen“ aufführte.

Für Beleites belegt diese Studie nur, dass die Stasi über Möglichkeiten, Spätschäden durch radioaktive Stoffe auszulösen, informiert war. JÖRG VÖLKERLING

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