Eine Aufführung findet nicht statt

Wie eine Kreuzfahrt: Moritz von Rappard und Adrian Winkler erfinden am Halleschen Ufer das Theater on demand

Ein blaugraues Heftchen, 10,5 mal 15 cm. Oben links steht in Fettschrift: „Spielplan, Stadt Theater“. Seit geraumer Zeit liegt die mysteriöse Broschüre im Foyer des Theaters am Halleschen Ufer aus. Man kann sie auffalten, durchblättern, angucken. Zu lesen gibt es darin nicht viel, und das wenige, was man liest, versteht man nicht so ganz: „Ravels Bolero für ein Maulwurfballett“ flammt rot auf einer grünen Wiese, „Ganz große Oper in fünf Monaten“, mit historischen Notaten zum Jahre 1830, gibt Aufschluss über einen Grundriss. Über einer goldenen Druckfläche, die Ähnlichkeit mit einem Bodenprofil aufweist, schillert „Höhere Gewalt – eine Meditation“. Aha. Blättert man weiter, wird man aufgefordert, nur für das zu zahlen, was man sehen will, und die Sätze des eigenen Helden zu „Glanzlichtern eines unvergesslichen Abends“ werden zu lassen: „Theater on demand“.

Dada oder Unfug? Theater – sagen Moritz von Rappard und Adrian Winkler. Dass ihnen daraufhin entsetzte Fragezeichen entgegenschlagen, ist den Urhebern des sonderbaren Heftchens zwar nicht schnuppe, aber kein Grund zu Besorgnis. Schließlich sei Konzeptkunst längst im Kunstbetrieb angekommen. Warum dann nicht Konzepttheater? Das Bändlein sei bloß als Denkanstoß gedacht, erklären sie. Jeder Besucher des Theaters am Hallenschen Ufer könne es bis Dezember einfach mitnehmen, lesen und sich danach seine Vorstellung selbst zusammenbasteln. Im Kopf natürlich. Eine Aufführung findet nicht statt.

Winkler und Rappard, die seit 1990 zusammen an einem „Metatheater“ arbeiten, wollen gegen zwei Dinge anrennen, die man zumindest an Orten wie dem Theater am Halleschen Ufer längst aus der Welt geschafft glaubte: die Denkfaulheit der Theatergänger und die Selbstverständlichkeit des Mediums Theater. Man könne, so Rappard, Theaterfrust und Geldmangel wirksam bekämpfen, indem man dem Publikum und den Kassenwärtern mit einer neuen Theaterutopie entgegentrete. Die Idee ist, sich einfach vorzustellen, was man alles im Theater machen könnte – und da man es nicht realisieren muss, wäre erstens alles möglich und zweitens alles (fast) kostenlos. Wie zum Beispiel die meditative Atmosphäre, die sich abseits vom Rettungstrubel nach einer Rheinüberschwemmung auf den durchfluteten Straßen einstellt. Aus Rappards Erinnerung an einen solchen Moment ist „Höhere Gewalt – eine Meditation“ entstanden. „Stellen Sie sich mal vor“, sagt er, „so eine mächtige Wasserfläche. Alles plötzlich ganz still.“

Damit der Besucher mit seinem Vorstellungsvermögen nicht ganz allein bleibt, werden an der Kasse des Theaters am Halleschen Ufer Papiertütchen verkauft, die weitere Denkvorschläge zur jeweiligen Theateridee des Heftchens in Form von Aufklebern enthalten. Wenn man die richtigen Aufkleber an die richtige Stelle klebt, erfährt man unter anderem, wie fünf Monate im Opernhaus auszuhalten wären: dramaturgische Dauerbetreuung, üppige Buffets und ein Schwimmbad zur Lockerung der verspannten Gliedmaßen würden aus dem Opernbesuch ein kreuzfahrtähnliches Erlebnis machen: Theater, das sich über Zeitbeschränkungen hinwegsetzt und Geschichte in Echtzeit aufarbeitet.

Natürlich ist das reines Gedankenspiel. Selbst bei den abendlichen „Matineen“, die Rappard und Winkler zu ihrem „Stadt Theater“-Projekt organisieren, wird die Aufmerksamkeit des Betrachters nur für die Zeit in Anspruch genommen, die er zum Wahrnehmen ihrer Theaterrauminstallationen nötig hat. Alles eher Dada on demand.

AURELIANA SORRENTO

Nächste Matinee am 27. März, 21 Uhr, Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32