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„Hier ist doch nicht Chicago“

. . . aber das Oderland. Im kleinen Städtchen Wriezen im brandenburgischen Oderbruch wurde ein14-Jähriger von Skinheads fast zu Tode geprügelt. Die Bürger halten ihre Stadt trotzdem für sicher

aus Wriezen GUNNAR MERGNER

Wenigstens stecken die Schläuche nicht mehr in seinem Körper. Eduard Seeger (Name geändert) wagt ein tapferes Grinsen, entblößt eine Zahnspange. Die Augen des 14-Jährigen sind ernst, unruhig. Ein Pflaster über den Rippen verdeckt die Stelle, wo das Blut aus seiner gerissenen Lunge gepumpt wurde. Der rechte Arm ist eingegipst, die Handwurzel gebrochen. Das linke Auge blau unterlaufen. „Es geht mir gut“, sagt er.

Über jenen Freitagabend vor einer Woche, als er von Skinheads mit dem Baseballschläger auf offener Straße verprügelt wurde, möchte der schmächtige Schüler nicht reden. „Er soll erst mal raus aus dem Krankenhaus“, findet sein älterer Bruder Andreas, ein stadtbekannter Punk. So lange übernehmen er und seine Freunde, ein Grüppchen Linker zwischen 16 und 29 Jahren, die Anklage der Zustände in Wriezen.

Das Städtchen im Oderbruch hat 8.600 Einwohner, fünf Angelvereine, einen Marktplatz und einen Jugendclub namens Alcatraz. Dorthin gehen nur die „Kleinen“, Jugendliche unter 15 Jahren. Zweistöckige, erdbraune Häuser mit abblätternden Fassaden und moosbewachsenen Dächern vermischen sich mit Plattenbauten. Wriezen, eine Ödnis für Jugendliche.

Seit zwei Jahren sei die Stadt nicht mehr nur langweilig, sondern auch gefährlich geworden, erklärt der 22-jährige Lars. Denn auch wenn in Wriezen jeder jeden kennt, ist das noch lange keine Garantie für gute Nachbarschaft.

Die 15 Jugendlichen, einige von ihnen arbeitslos, sind meist in ihrem selbst gewählten Exil anzutreffen, dem Proberaum der längst aufgelösten Band. Dieser Fluchtpunkt im alten Industriezentrum jenseits der Bahnlinie, hinter vernagelten Fenstern mit Punkplakaten dekoriert, gerät aber zunehmend in das Fadenkreuz der Wriezener Skins und der „Faschos“ aus dem Umland: Dreimal tauchten sie in letzter Zeit auf, warfen Bierflaschen durch die Fenster, traten die Tür ein.

Es gab Pöbeleien, Schlägereien, nicht einmal Wohnungen seien sicher, erzählen die Linken. Seit einer der Ihren einen Rechten bei der Polizei verpfiff, ist das Klima unerträglich geworden. Bisher habe man immer versucht, „mit den Rechten zu labern“. Das Scheitern friedensstiftender Versuche ist jetzt aber nicht mehr zu übersehen. „Allein traue ich mich nicht mehr durch die Stadt“, sagt die 16-jährige Annett.

Lutz Richter, Chef der lokalen Bürgerwehr und der Solidargemeinschaft „Sicher leben in Wriezen“, kann diese Einschätzung nicht teilen. „Wir sind hier nicht in Chicago“, wiegelt er ab, Wriezen sei eine sichere Stadt. Ärger gebe es mit Einbrechern in den Kleingärten, aber die Straßen seien ruhig.

An jenem Freitag hatte sich denn auch eine Schülerschar ganz ruhig auf dem Minimal-Parkplatz versammelt. Als die Skinheads kurz nach 19 Uhr mit sechs Autos anrückten und „Sieg Heil!“ brüllten, stob die Gruppe in alle Himmelsrichtungen auseinander. „Mein Bruder war der Langsamste“, sagt Andreas. Deswegen hätten sie gerade ihn „mürbe gemacht“.

Zwischen Friedhofsmauer und ein paar Büschen wurde er eingeholt, mit dem Baseballschläger und Stahlkappenschuhen zusammengeschlagen, liegen gelassen.

„Die Bürgerwehr stand daneben und hat zugeguckt“, regt Lars sich auf. Lutz Richter hält die Hand über seine Leute: „Die waren zu zweit. Was hätten die denn ausrichten können?“ Die Stadtverwaltung ist gehalten, gar nichts zu sagen. Statements gebe nur der Bürgermeister, aber der ist nicht da.

Die entschuldigende Selbstberuhigung in Wriezen heißt: Das waren keine Wriezener. „Die Leute, die dort randaliert haben, gehörten nicht in die Stadt“, sagt zum Beispiel Lutz Richter. Die Lokalzeitung assistiert mit der Aussage, die Tat sei „nicht politisch motiviert“ gewesen.

Für Lars ist diese Haltung schlichtweg unglaublich: „Sehen die Leute nicht, was hier abgeht?“ Zumindest Staatsanwalt Christoph Schüler aus Frankfurt (Oder) wird deutlich: „Diese organisierte Jagd hatte natürlich einen rechtsextremistischen Hintergrund“, sagt er. Die drei mutmaßlichen Täter säßen bereits in U-Haft. Einer sei 17, die anderen seien 18 bis 21 Jahre alt, alle drei vorbestraft. Ihnen drohen mehrjährige Haft- oder Jugendstrafen. Gegen einige andere wird noch wegen Beihilfe ermittelt.

Das Verständnis des Staatsanwalts allein kann das Leben der Linken in Wriezen nicht versüßen. Viele träumen davon, „das Kacknest“ zu verlassen. Andreas möchte als Entwicklungshelfer „nach Brasilien, Kuba oder Mexiko“ gehen.

Sein Bruder wird bald aus dem Krankenhaus entlassen und muss sich dem ganz normalen Alltag in Wriezen stellen.

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