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„Wer mehr Tore schießt, gewinnt“

Sollte der Gefoulte den Elfer schießen? Sind frühe Tore Gift oder Labsal? Entscheiden wirklich Zweikampf-Statistiken? Das neue „Lexikon der Fußballmythen“ im taz-Praxistest anhand aktueller Forschungsergebnisse aus der Champions League

von BERND MÜLLENDER

Es gibt Bücher, die muss man ganz lesen, um sich ein fundiertes Urteil zu erlauben. Andere, wie das hier vorgestellte „Lexikon der Fußballmythen“, bescheren schon nach kurzem Blättern ein Aha-Erlebnis nach dem anderen: Kluge kleine Textlein stehen da und abseitig kuriose Beobachtungen, faktengespickt, witzig immer und respektlos trotz der offenkundigen Fußballbegeisterung des Autors Christian Eichler.

Dieser zitiert einleitend das alte Klagelied aller Fußballmaniacs: „Was hätte aus mir werden können, wären nicht Milliarden Hirnzellen mit völlig nutzlosen Fußballresultaten blockiert.“ Und er verspricht mit seinem pfundschweren Buch „ein Navigationssystem“; welches helfe, „die Verknüpfungen herzustellen zwischen dem, was man schon wusste, dem, was man zu wissen glaubte, und dem, was man noch nie gehört hat“.

Unterziehen wir das „Lexikon der Fußballmythen“ einem Praxistest. Mit den aktuellen Spielen der Champions League. Wobei ja schon der Begriff der Champions ein Mythos ist, spielen doch Champions, also Meister, nur in der Minderheit mit.

Eichler benennt Mythen zu Dutzenden und gleich sie mit der Wahrheit ab. Etwa: „Mythos: Wer mehr Zweikämpfe gewinnt, gewinnt das Spiel. Wahrheit: Wer mehr Tore schießt, gewinnt das Spiel.“ Der zweite Teil ist fraglich immer richtig. Dass der zitierte Mythos ein solcher ist, belegt Eichler mit Beispielen zweikampfstarker Loser. Aktuell widerlegte Lothar Matthäus bei seinem Abschiedsspiel die Aussage: Er hatte laut Statistik 75 Prozent seiner Zweikämpfe gegen Madrid verloren. Bayern siegte 4:1.

„Mythos: Erfolgreiche Torjäger haben einen ‚Lauf‘.“ Es gebe, so Eichler, keine aussagekräftigen Statistiken dazu. Scheinbares Gegenbeispiel: Barcelonas Gabri. Aber der kann plötzlich noch so oft treffen, irgendwann ist immer Schluss. Läufe laufen aus, siehe auch Alexander Zickler. Und: Ein Lauf kann nur starten, wenn vorher keiner war.

„Mythos: Ein Tor kurz vor der Pause fällt zum psychologisch wichtigen Zeitpunkt. Wahrheit: Es ist völlig egal, wann Tore fallen.“ Unser Beweis sei der FC Chelsea am Mittwoch: psychologisch günstiger als 45. Minute geht nicht. Chelsea könnte sich indes berufen auf den „Mythos: Wer 1:0 führt, der stets verliert“. Prag am Dienstag scheint dazu auch zu passen. Dennoch weiß Eichler die schlichte Wahrheit statistisch zu belegen: „Wahrheit: Wer 1:0 führt, zu 90 Prozent nicht verliert.“

Mythen sonder Zahl werden auch in der Berichterstattung nach Belieben geschaffen und aus der Mottenkiste geholt: Bayern gegen Trondheim vor einer Woche, Jeremies hüpft unbedrängt unter einer Kopfballflanke durch. Reporter: „Jeremies ist zu klein, einfach zu klein.“ Wahrheit: Die Flanke war schlicht zu hoch. Am gleichen Abend gelang übrigens Chelseas Mini-Mann Dennis Wise ein Kopfballtreffer. Und hat man nicht schon E-Jugendliche kopfballtoren sehen? Umgekehrt lässt sich auch mystifizieren. Über Rosenborgs Carew hieß es: „Er ist nicht nur groß und kopfballstark, sondern kann auch Fußball spielen.“

Gern wird auch der Mythos verbreitet, ein frühes Tor sei psychologisch günstig und tue dem eigenen Spiel gut. Herthas 1:0 in Barcelona dürfen wir als lockeren Gegenbeweis anführen. Nach dem 1:3 waren alle klüger: Da war die Führung plötzlich als „Gift“ geoutet, der Gegner „gereizt“. Wohl aber sei das 2:1 für Barca „spielentscheidend gewesen“, weil „es so früh in der 2. Halbzeit fiel“. Überraschend erwies sich Ko-Kommentator Stefan Kuntz als Entmystifizierer. Frage: „Fiel Herthas Führung zu früh?“ Antwort: „Ja, 89. Minute wäre besser gewesen.“ Was Reals Raúl egal ist, der schoss den Siegtreffer am Mittwoch in Minute 3.

Fußball und die Logik seiner Ergebnisse werden immer unerklärlich bleiben. Mythen sind nötig und lassen sich nach Belieben erzeugen und verwerfen, wie es gerade passt. Wie geht der Ball ins Tor? Einfach reinschießen!

Muss man das noch belegen? „Mythos: Der Trainer, der den späteren Torschützen einwechselt, hat ein Händchen. Wahrheit: Er hatte vorher den Falschen aufgestellt.“ Oder: „Mythos: Der Fußball pflegt seine Dolchstoßlegenden. Wahrheit: Sie interessieren nur die Verlierer.“ Oder: „Neue Besen kehren gut. Wahrheit: Eingefegte Besen fegen besser.“

Härtnäckig hält sich der „Mythos: Der Gefoulte soll den Elfmeter nicht selber schießen. Wahrheit: Doch, er soll.“ Die Statistik ist tatsächlich auf Eichlers Seite: 78,5 Prozent aller Bundesliga-Strafstöße sind drin. „Wenn der Gefoulte antrat, gingen fast 90 Prozent rein.“ In der Europaliga: Der gefoulte Raúl verschoss, der gefoulte Sergio verwandelte. Ein Gegenmythos wäre die Behauptung, Sergio war ja gar nicht der Gefoulte, sondern hatte sich den Strafstoß nur erschwalbt.

Überhaupt Elfmeter. „Mythos: Elfmeter sind leicht für großartige Spieler. Wahrheit: Elfmeter sind schwer für großartige Spieler.“ Eichler erzählt Gegenbespiele von historischen Strafstoßdrückern und -versagern (Pelé, Platini, Socrates). Im vorletzten Champions-Spieltag gingen 4 von 6 Elfern daneben. Da spielen die Besten Europas. q.e.d.

Fazit: Test mit Bravour bestanden. Was aber auch leicht ist, so mythisch verquer sind die ewig mystischen Fußballmythen. Gäbe es im Schulnotensystem eine 7, hätte Eichlers Werk eine 8 verdient. Die 9 gibt es nur deshalb nicht, weil Eichler einem Mythos selbst aufgesessen ist: Unter dem Wolkenschuss-Bild vom Hoeneß-Elfmeter Belgrad 1976 steht: „Der Ball wurde nie wiedergefunden.“ Das glauben wir nicht: Immer noch in der Umlaufbahn wird er kaum sein. Eher hat ihn der Uli daheim.

Christian Eichler: „Lexikon der Fußballmythen“, Eichborn, März 2000, 402 S., 39,80 DM

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