: „Festnehmen oder Vernichten“, forderte Mielke
Michael Gartenschläger wurde erschossen, weil er die DDR-Grenze „verletzt“ hatte. Heute endet der Prozess gegen die Schützen
BERLIN taz ■ Für den Staatsanwalt ist Michael Gartenschläger ein wagemutiger Grenzpirat, die Verteidiger der Todesschützen sehen in ihm eher einen leichtsinnigen Abenteurer. Heute geht am Landgericht Schwerin der Prozess zu Ende, der Ablauf und Hintergründe der Tat aufklären sollte.
Wie immer das Urteil lauten wird, die Geschichte hat Michael Gartenschläger jedenfalls auf seiner Seite – die deutsch-deutsche Teilung ist vorbei. 1976 war er als 32-Jähriger von einem Stasi-Sonderkommando im Grenzgebiet zwischen Mecklenburg und Holstein erschossen worden. Zuvor hatte er zweimal – vom Westen kommend – Selbstschussanlagen auf Ost-Gebiet demontiert. Mit einer Angelschnur hatte er die Geräte entschärft. Eine der Kugelhagel-Maschinen brachte er dann zum Spiegel. Der folgende Bericht löste internationale Empörung aus: Die DDR-Führung hatte bis dahin die Existenz solcher Systeme vehement bestritten. Jetzt war sie total blamiert. Für dieses Debakel soll Stasichef Mielke persönlich Rache gefordert haben. Die Gauck-Behörde legte ein Dokument vor, in dem von „Festnehmen oder Vernichten“ die Rede ist.
Der Schweriner Prozess, der im letzten November begann, hat jedoch gezeigt, dass die genauen Umstände des Todes von Michael Gartenschläger nicht mehr restlos aufzuklären sind. Aussage steht gegen Aussage. Die drei angeklagten Mitglieder des Stasitrupps sagen, sie hätten ihn nicht töten, sondern in die DDR bringen wollen. Dass er in jener Nacht wieder an die Grenze kommen würde, wusste man durch Spitzel aus seinem Umfeld. Nachdem Gartenschläger bemerkt habe, dass er in einen Hinterhalt geraten war, soll er zu schießen begonnen haben. Daraufhin hätten sie das Feuer erwidert, so die Stasileute.
Die Hauptbelastungszeugen der Staatsanwaltschaft, Freunde des Opfers, erklären das Gegenteil. Sie hatten Michael Gartenschläger begleitet und wollten auf westdeutscher Seite auf ihn warten. Als er an den DDR-Grenzanlagen auftauchte, sei er ohne jede Vorwarnung niedergeschossen worden. Obwohl er bereits verletzt am Boden lag, habe es dann noch eine zweite Salve gegeben. Versuchter Mord oder Notwehr, das ist die Frage, die heute entschieden wird.
Es hat lange gedauert, bis der Fall überhaupt vor Gericht kam. Die Anklage des Staatsanwalts lag seit 1995 vor. Inoffiziell heißt es, der zuständige Richter sei nicht scharf auf das unbequeme Verfahren gewesen. Mag sein, dass ihn die Aussicht auf wenig Beweismittel, widersprüchliche Aussagen und selbstgefällige Verteidiger nicht gerade angespornt hat. Einer der Anwälte war Peter-Michael Diestel, letzter Innenminister der DDR, für seine Besserwisserei in allen Sicherheits- und Geheimdienstfragen bekannt. Davon abgesehen war die Lage im Gerichtssaal ruhig. Anders als bei ähnlich politisch brisanten Prozessen in Berlin gab es aus dem Publikum keine Zwischenrufe à la „Siegerjustiz“. Die drei Angeklagten haben den Tod von Michael Gartenschläger ausdrücklich bedauert.
Der älteste der Männer war zur Tatzeit 26 Jahre alt. Die Wende hat aus ihnen einen Versicherungsvertreter, einen Bademeister und einen Hilfsarbeiter gemacht. Der Mauerfall, der ihr Schicksal wurde, war der Lebenstraum von Michael Gartenschläger. Als 1961 die Grenzanlagen gebaut wurden, lebte er noch in der DDR. Wegen Protesten und Brandstiftung wurde der damals 17-Jährige zu lebenlanger Haft verurteilt. Die Bundesrepublik kaufte ihn später frei. Von Hamburg aus startete er dann seine Grenzattacken.
An dem Ort, wo er erschossen wurde, steht heute ein Holzkreuz. Sein Grab befindet sich in Schwerin. 1976 wurde er hier anonym beerdigt. Nach der Wende bekam er einen richtigen Gedenkstein. MANUELA THIEME
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