: Weltweite Auflage 27 Millionen
„Der Kinder Divan“ hat am meisten Harry-Potter-Bücher pro Quadratmeter Ladenfläche verkauft. Deshalb las die Autorin Joanne K. Rowling nun in Berlin. Doch das versprochene „Event“ geriet zur Signierstunde
Hinter uns kreischen, giggern und kieksen ein paar halbwüchsige Mädchen, die der Pubertät bereits tief ins Auge blicken. Links und rechts von uns sieht es jünger aus. Die beiden Sanitäter vor uns erhöhen das Durchschnittsalter vehement und runzeln die Stirn. Wahrscheinlich erinnern sie sich an den letzten Auftritt der Backstreet Boys und sorgen sich, ob sie nicht unterbesetzt sind.
Aber auf die Bühne des großen und schon seit Wochen ausverkauften SFB-Sendesaals wird keine Boygroup kommen, sondern Joanne K. Rowling. Die stammt aus dem schottischen Edinburgh, ist 33 Jahre alt und hat mit ihrer Kinderbuchreihe um den Zauberlehrling Harry Potter mehr Erfolg als Astrid Lindgren und Christine Nöstlinger zusammen. Die bisher erschienenen drei „Potters“ der auf sieben Bände angelegten Reihe sind mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt, die weltweite Auflage wird auf 27 Millionen geschätzt. Seit Monaten blockieren die drei Bände die obersten Plätze der Bestsellerliste der New York Times, Harry Potter war auf dem Titel des Time Magazine, und demnächst steht die Verfilmung an – als Regisseure im Gespräch: Steven Spielberg, Rob Reiner und Jonathan Demme.
Zur Folklore um den Erfolg von Harry Potter gehören längst nicht mehr nur die humorvollen Bücher mit den Geschichten um die Zauberer und Hexen und ihre Parallelwelt, in der wir normale Menschen nur Muggels heißen. Ebenso zauberhaft ist die Geschichte von der allein erziehenden Mutter J. K. Rowling, die von der Stütze lebt, sich nicht einmal das Heizen leisten kann und sich deshalb mit ihrem Baby Jessie in Cafés rumtreibt, wo sie sich in eine Zauberwelt träumt und ihre Träume aufschreibt. Nun ist ihr Stammcafé zur Wallfahrtsstätte geworden, und auf Band vier warten Millionen Kinder weltweit. Im Herbst wird er erscheinen, nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern gleichzeitig auch frisch übersetzt auf allen anderen wichtigen Märkten. Hinter uns wird derweil spekuliert, ob man „Tschoänn“ kreischen sollte oder doch besser deutsch „Jo-Anne“. Erst mal aber kommt nur Karin auf die Bühne. Nennen wir sie Karin, weil sie selbst sich nur Karin nennt. Sie ist Buchhändlerin. Ihre Buchhandlung „Der Kinder Divan“ hat sich mit 300 anderen Läden an einem Wettbewerb des Hamburger Carlsen Verlags beteiligt: Wer verkauft pro Quadratmeter Ladenfläche die meisten Harry-Potter-Bücher? Der Kinder Divan war es, und deshalb liest Rowling an diesem Freitag in Berlin. Aber: Nicht nur eine Lesung, ein Event wurde versprochen, „ein riesiges Kinderereignis“, wo man „ganz in die Potter-Welt eintauchen können“ sollte.
Der SFB-Sendesaal aber sieht wie immer aus, irgendwie wenig zauberhaft.Doch dann kommen Rowling und Klaus Fritz, der Übersetzer der deutschen Ausgabe, und die Begeisterung ist groß. Ein paar Kinder tragen ein flottes Gedicht vor, wie sehr sie Harry Potter lieben. Dann lesen Rowling und Fritz zwei Kapitel aus den drei Bänden. Das heißt: Vor allem Fritz liest, ausdrucksstark und durchaus bemüht um unterschiedlichen Tonfall für die einzelnen Figuren. Rowling dagegen übernimmt nur hin und wieder eine Rolle und liest ihre Parts in Englisch. Folglich beginnt das kindliche Publikum recht schnell unruhig zu werden. Nach den beiden Kapiteln dürfen ausgewählte Kinder Fragen stellen, die Rowling geduldig beantwortet.
Vor kurzem wurde sie verklagt. Eine andere Autorin beschuldigt sie, Figuren, Namen und Grundzüge der Geschichte von ihr gestohlen zu haben. Damit werden sich nun die Gerichte beschäftigen. Die Berliner Fans haben anderes im Sinn: Kaum hat Karin verkündet, dass das „Event“ zu Ende ist und Rowling nun zu signieren beginnt, stürmen die ersten Eltern mit ihren Kindern im Schlepptau los, alle ein Buch in der Hand. Nur schwer kann der Mann vom Carlsen Verlag die Regularien verkünden: Die Kleinsten zuerst, jeder nur ein Buch, keine Widmungen. Dann bricht die Apokalypse los. Sie wird länger dauern als die Lesung, die kaum mehr war als eine schlecht getarnte Signierstunde.
THOMAS WINKLER
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