Die Kunst geht toben

Warten auf den Disco-Godot: In Kassel wurde das Techno-Spektakel „Rave. Ecstasy. Pop!“ uraufgeführt

Jürgen Laarmann ist Techno-Gott: Als Herausgeber von Frontpage zimmerte er zum Soundtrack der Neunzigerjahre den theonretischen Überbau. Zu einer Zeit, als die Marketing-Fuzzis von Zigaretten- und Sneakers-Firmen die Raver längst nicht nur als potenzielle, sondern vor allem potente Kundschaft erkannt hatten, der bürgerliche Kulturbetrieb aber ignorant, irritiert oder gar ablehnend reagierte. Dann ging Frontpage ein, und Laarmann verschwand. Mittlerweile kommentiert er in launiger Elder-Statesman-Manier in seinen Kolumnen die wirklich wichtigen Dinge des Lebens: Fußball, Fernsehen und wo man in Berlin das beste Schwertfischcarpaccio essen kann. Das Theater wiederum giert nach jungen, wilden Autoren. Armin Petras, neuer Schauspieldirektor in Kassel, „kaufte“ daher Laarmann und Regisseur RP Kahl im Paket, um mit ihnen am Staatstheater ein Event zu fabrizieren. Also ist Laarmanns erster langer Text kein Roman oder Filmscript, sondern ein Theaterstück geworden. Show me the money. Da ist er relativ emotionslos.

Und ein Spektakel versprach der Theatermarathon mit dem Titel „Rave. Ecstasy. Pop!“ auch zu werden. Laarmanns „Canossa Club“ macht den Auftakt, ergänzt mit drei Stücken in der Inszenierung von Petras: „Pop!“ von Georg Timber-Trattnig, „Miss Sara Sampson“ von Lessing und „Gott ist ein DJ“ von Falk Richter, einem der Nachwuchsbühnenautoren du jour. Danach Rolf Peter Kahls Kinofilm „Angel Express“, schließlich Party im Stammheim, der örtlichen Techno-Keimzelle.

„Canossa Club“ spielt im Backstageraum einer gleichnamigen Disco; Hauptfiguren sind ein reicher Erbe, ein Club-Konzeptioner und ein aufstrebender Starfotograf. Sie haben alles gesehen, alles erlebt. Den letzten Kick könnte ihnen allenfalls noch die südamerikanische Dealerin Paula schenken. Denn sie hat den Stoff, aus dem die Träume sind: eine in den letzten Kriegswirren verschollene Drogenlieferung an Adolf Hitler, „des Führers Koks“. Exzess, Ekstase, Machtfantasien, der ganze Wahnsinn des 20. Jahrhunderts kulminiert so in ein paar Gramm, 55 Jahre in einem Koffer gut abgelagerten weißen Pulvers. „Canossa Club“ funktioniert als intelligentes Sampling, in dem man die Techno-Idioten, Großkotze und Funktionäre exakt wiedererkennt, die sich irgendwann auch mal für die „Raving Society“ begeisterten. Das Stück ist eine eklektizistische Demontage, in der Laarmann sich zwar ein wenig Wehmut, aber nicht den Hauch von Mitleid erlaubt.

Geheime Work-in-progress-Lesungen an einer ebenso geheimen Location, bei denen Laarmann selbst alle Rollen seines Debüts sprach, schürten den Vorab-Hype ebenso wie Beschreibungen des Dreiakters als „Disco-Warten-auf-Godot“ oder „Glam-Houellebecq“. Ein paar Tage vor der Uraufführung bekam das Stück indes mehr Aufmerksamkeit, als den Beteiligten lieb war. Plötzlich hing der Vorwurf in der Luft, es sei faschistoid und menschenverachtend, und RP Kahl trat eine Woche vor der Premiere aufgrund der üblichen „künstlerischen Differenzen“ zurück.

Kahl ist abgeklärt genug, sich über die neue Inszenierung nicht zu äußern. Doch das von ihm angestrebte konsequent naturalistische Konzept hat den Regiewechsel zu Frank Dorsch offensichtlich nicht überlebt. Zwar ist die Inszenierung erfreulich clean und low gehalten, ohne die üblichen Nebel-, Stroboskop- und Discokugel-Sperenzchen. Doch statt die Figuren sich selbst entlarven zu lassen (was natürlich auch hieße, dass wir ihnen dennoch – oder gerade deswegen – unsere Sympathie schenken könnten wie Rittern von der traurigen Gestalt), schmeißen sie mit Mehltüten voller Puderzucker um sich, schnupfen das Zeugs auch nicht, sondern klopfen es sich in die Armbeuge, den Nacken oder gar die Ohren. Statt auf einen souveränen Zuschauer setzt Dorsch auf Gaga-Spektakel und billige Gimmicks, am schlimmsten in den Intermezzi: Da machen weiß gekleidete Tänzer zu schepperndem Billig-Techno dem MDR-Fernsehballett harte Konkurrenz.

Auch sonst galt am Premierenabend: You can't beat the real thing. Sven Väth legte im Stammheim auf, und die Masse zelebrierte einmal mehr die Kunst des Tobens. Ein paar Stunden zuvor hatten sich zwei Jungschauspieler noch auf einer kleinen Rundbühne im Foyer des Kasseler Schauspielhauses redlich abgemüht, in möglichst schriller Tonfolge ein kühl kalkuliertes Image vor sich her zu posaunen, sich auf dem Boden zu wälzen, gegenseitig mit Senf und Miraculi-Sauce zu bespritzen und tausend andere Dinge zu tun, die wir aufgeregten Thirtysomethings in unseren hippen Medienberufen angeblich so treiben – Petras’ Interpretation von Richters „Gott ist ein DJ“. Doch wer der Gott der DJs ist, offenbarte sich, als endlich Väth auflegte. Dass sich das Kasseler Staatstheater zuvor an Pop versuchte hatte, interessierte dann niemanden mehr. ANNETTE KILZER