: Das Cappuchino-Modell
DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH
„Kann man Schönheit essen?“ Slogan für „Merz-Spezial-Dragees“
Und ganz im Gestus des Arztes, der die bitteren Pillen verabreicht, eilt der neue CDU-Fraktionschef in die Pressekonferenzen, ein bedenkliches Bulletin zu verkünden : Die Renten zu retten, gälte es, künftig bis 70 durchzuarbeiten, für seine und die folgenden Generationen. Zwar hat die Union gerade ein hübsches Beispiel zelebriert, wie das ist, wenn einer ums Verrecken seiner Partei bis zum Siebzigsten nicht aufs Altenteil will. Doch inzwischen geht Deutschlands widerwilligster Rentenempfänger mit dem Hut rum; ein beispielgebendes Ende.
„Für die Zeit nach Blüm und Dreßler“ formulierte Menschenrechtsaktivist Hans-Olaf Henkel schon Denkschriften, als man gemeinhin annahm, die offizielle Amtszeit des AfA-Vorsitzenden als Sozialminister stünde erst noch bevor. Rudolf Dreßler, dem gelernten Schriftsetzer aus Wuppertal, kam die irrlichternde Ehre zu, von Parteigenossen als „Arbeiterführer“ oder gar „August Bebel“ verspottet zu werden. Noch Willy Brandt legte einen respektablen Zorn hin, behelligte man ihn mit der Frage, wer denn nach ihm die legendenumwobene Taschenuhr des ersten SPD-Vorsitzenden verwahren dürfe. Heute reicht der Ruhm Bebels offenbar gerade noch aus, querulante Traditionalisten als rote Heimatvertriebene auszugrenzen.
Nun ist Bebels Wecker auch nicht unbedingt alles, was in der SPD nicht mehr richtig tickt. Die Kernforderung der deutschen Industrie aber an eine neue Bundesregierung, das doppelte Lottchen der Sozialpolitik zu berenten, hat der Genosse der Bosse (für Green-Card-Inhaber: Neffe von Cheffe) dieser Tage erfüllt: Das Blümdreßlertum, Schreckgespenst im großen Lohnnebenkotzen, wird zu gleichen Teilen weggelobt und abgeschoben. Politik ist, was passiert, obwohl nicht jeder Bundeskanzler wird. Dreßlers 16-jährige Kampfzeit in der Illegalität der Kohl-Regierungen – „ich habe aus der Opposition heraus mehr bewegt als manche in der Regierung“ – wird mit dem Botschafterposten in Israel belohnt. Ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann. Auch wenn er es wohl wiederholt versucht hat – ohne die deutsch-israelischen Beziehungen, um die er sich stets bemühte, zu beschädigen.
Kollege Norbert Blüm wird auf dem CDU-Parteitag mit Applaus verabschiedet werden, Klatschen, bis er Ruhe gibt. Tragisch anmutendes Beispiel dafür, wie das aussieht, wenn man zu früh zu spät kommt: Als der längste Minister Kohls sich, melancholisch gestimmt, vom Big Spender lossagte, war das so überfällig, dass er es auch hätte sein lassen können. Gemeinsam haben der christliche Gewerkschaftsfunktionär Blüm und der bürgerliche Betriebsratsvorsitzende Dreßler Gesundheits- und Rentenreformen ausgepokert.
Und schließlich die Pflegeversicherung: Ein Bastard aus „Feiertag opfern“ und „Parität retten“. Fürs Erste zum letzten Mal legen die Arbeitgeber ihren Anteil dazu, aber eben nur, weil sie ihn vorher von den Arbeitnehmern geschenkt bekommen. Dreßler brauchte damals einen vom Krankenbett herbeigeschleppten Vorsitzenden Scharping, um die Zustimmung seines Arbeitnehmerflügels dafür zu bekommen. Blüm kämpfte da schon gegen den Durchmarsch der Ordoliberalen in seiner Partei; seither biedenkopft es anschwellend gerade in der nun aufsteigenden, jüngeren Union.
Zwei wie Pech und Schwafel werden da unter kaum verhohlenem Jubel der Lobbyisten davongejagt. Schwer zu sagen, wie heftig es in Deutschland gethatchert hätte ohne diese beiden. Blüm lähmte die Schlagkraft der Gewerkschaften, als er das Kurzarbeitergeld für mittelbar vom Streik Betroffene strich. Doch über Strecken konnte man sich fragen, woran denn sonst man ihn von seinem sozialdemokratischen Kumpel unterscheiden sollte. Als junger Metaller bei Opel in Rüsselsheim trieb Blüm seine Gang dazu an, morgens eine halbe Stunde vor den erfolgsgewohnten Linken an die Werkbank zu eilen : SPD-Flugblätter einsammeln, christliche hinlegen. Diese Gewitztheit gegen den übermächtigen politischen Gegner war, paradox genug, der Schlüssel zum Regierungserfolg. Mit etwas Einfühlung lässt sich hier auch die Wurzel aufspüren für die putative Notwehr, in der Kohl über Recht und Gesetz hinwegrollte: Legal, illegal, scheißegal – wenn es gegen die Sozen geht. Im ersten Reflex begründete Kohl seine Machenschaften damit, gegen eine Übermacht der Gewerkschaften im Osten Geld gebraucht zu haben.
Mögen sie untereinander in diesen Gefechtsstellungen der 50er-, 60er-Jahre verhaftet sein. Von außen betrachtet sitzen traditionelle Sozialdemokraten und linke Zentrumsnachfahren in genau dem Sack, auf den Henkel und andere unterschiedslos einprügeln.
Die Rentenversicherung stammt aus der Zeit, als der durchschnittliche Industriearbeiter mit ungefähr 40 Jahren starb. Das rechnete sich; und hier fehlt dann doch noch ein offenes Wort des behandelnden Schönheitsoperateurs Merz: Die riesigen Nebenwirkungen einer verlängerten Lebensarbeitszeit werden in die gleiche Richtung gehen. Mehr arbeiten heißt auf den ersten Blick: länger Beiträge zahlen. Auf den zweiten aber: vor Erreichen der Rente am Arbeitsplatz sterben. Das tun noch heute ein Drittel der Beitragszahler; Dr. Merz schlägt gerade vor, dass es endlich wieder mehr werden müssen.
Damit ist er nahe bei Bismarck, also in den Gefechtsstellungen der 1890er. Wird Blüm auch wundern, dass er von Älteren abgelöst wurde. Hinzu kommt der Nebenwiderspruch, dass auch arbeitet, wer längst Rente bezieht: Ohne die häusliche Pflege durch Angehörige wäre die Pflegeversicherung längst platt. 80 Prozent der unselbstständigen Menschen in Deutschland werden von Angehörigen gepflegt; künftig offenbar nach Feierabend.
Deutlich genug flaggt Merz seinen Vorschlag als Griff in die Brieftasche kommender Generationen aus: Später mal soll es so kommen, aktuelle Rentner können also umso beruhigter CDU wählen. Das hat Tradition, die erste gesamtdeutsche Wahl gewann Kohl mit einem kostspieligen Mix aus „Die Rente ist sicher“ und „Ost-Renten zählen voll“. Die FDP – die Partei mit dem ältesten Wählerschnitt – hat das Elend auf Kosten kommender Jahrgänge 16 Jahre mitangerührt; unter Absingen schmutziger Lieder, natürlich. Was schließlich die Grünen auf den dünnen Ast treibt, dem nachzueifern, mag man sich kaum ausdenken. Staatliche Rente plus genug Kleingeld für eine private Lebensversicherung plus ein betrieblicher Bonus obendrauf: das holländische „Cappuchino-Modell“ aus Kaffee, Sahne, Schokostreusel. Klingt ja auch viel besser als „lupenreine Klientelpolitik für Besserverdienende“.
Rainer Eppelmann und Otmar Schreiner ist natürlich Zeit zu geben, sich in die Nachfolge der beiden großen Schattenmänner einzufinden. Das possierliche Lenin-Double und Oskars letzter Mann in Bonn leiten nun CDA und AfA. Manche Historiker neigen ja dazu, das 20. Jahrhundert ein „sozialdemokratisches“ zu nennen. Im Rückblick.
Hinweise:
Blüm wird mit Applaus verab-schiedet: Klatschen, bis er Ruhe gibt
Arbeiten à la Merz heißt: vor Erreichen der Rente am Arbeitsplatz sterben
Bebels Wecker ist nicht unbedingt alles, was in der SPD nicht mehr richtig tickt
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