: Offene Türen hinter Gittern
Der offene Vollzug ist dem Gesetz nach der Regelvollzug. Zumindest das letzte Drittel der Strafe soll der Häftling im offenen Vollzug sitzen, um sich langsam wieder an das Leben in der Gesellschaft zu gewöhnen. Die Frage ist nur: Wie?
von FRANZISKA REICH
Heute rücken sie ein. Sie reichen ihren Pass durch eine kleine Luke. Sie füllen einen Schein aus. Name, Datum, Passnummer. Heute gehen sie in den Bau. Weil Samstag ist und weil sie reindürfen. Mit Picknickkorb und Töchtern und Söhnen. Von 13 Uhr bis 16 Uhr. Besuchszeit in der Justizvollzugsanstalt Düppel, Berlin. Sie besuchen Freunde oder Verwandte, die hier im offenen Vollzug untergebracht sind.
Düppel liegt am äußersten südwestlichen Rand von Berlin und die Justizvollzugsanstalt am äußeren vom äußersten. Ein Maschendrahtzaun umgibt die Wohnbaracken, die zugehörige Gärtnerei und die Schreinerei.
Offener Vollzug bedeutet zunächst nichts anderes, als dass die Bedingungen innerhalb der Gefängnismauern andere sind als im geschlossenen. Die Fenster sind nicht vergittert, die Gefangenen dürfen sich freier bewegen, sie haben Aussicht auf Freigänge, sie werden in ihren Zellen nicht eingeschlossen, sie dürfen länger fernsehen und länger Besuch empfangen.
Die Besucher gehen durch lange Flure. In Lindgrün, weil Grün beruhigt. Das Fenster des Besuchsraums gibt den Blick frei auf den Gefängnisgarten. Eine weiße Kirche zwischen kleinen, rot gedeckten Häusern in einem grünen Tal hängt in Öl an der Wand.
Ein Paar hat Platz genommen. An ihrem Knie reißt ein Tattoo-Monster sein Maul auf, angewinkelt werden seine Zähne länger. Sie sitzt mit gespreizten Beinen vor ihrem Liebsten, er streicht ihr den Hals entlang, über den Nacken, zum Dekolleté. Am Nachbartisch sitzt eine türkische Familie. „Du musst dich mal benehmen“, sagt der Vater zu seiner Tochter. Leise sprechen Vater, Mutter und Sohn, der hier eine Gefängnisstrafe absitzt, türkisch.
Markus setzt sich an den Tisch vor der grauen Tür. Seit eineinhalb Jahren sitzt er im Knast. Wegen Steuerhinterziehung und noch bis Oktober. In einem Monat wird er Freigang bekommen. Markus findet, er könne sich nicht beschweren. Obwohl ihm der Knast in Berlin-Tegel lieber war. Da hatte er eine Einzelzelle, in der er ungestört war. „Ich hatte Fernseher und Laptop und Radio und alles“, sagt er. Gefängnisgeschichten.
In Düppel teilt man sich die Zelle zu viert. Wenn man noch nicht Freigänger ist. Morgens um sechs steht Markus auf, um kurz nach halb sieben den Bus zu erwischen, der ihn in die Stadt bringt. Er arbeitet für die Landesregierung. Streicht Flure in Behörden. „Zu streichen hat der Senat immer etwas“, sagt Markus. Also streicht er, bis er richtig arbeiten kann. In einem Monat.
Nach einem Vierteljahr im offenen Vollzug können die Gefangenen beantragen, in einer normalen Firma zu einem normalen Gehalt angestellt zu werden. Bis dahin arbeiten sie für im Schnitt 12 Mark am Tag. Ohne Rentenversicherung. Im Alter werden sie den Status von Sozialhifeempfängern haben.
Im Gefängnis herrscht eine eigene Hackordnung
Markus erzählt: Bei der Fremdenlegion sei er gewesen, Kampfsport habe er in Thailand gelernt, Politiker und Prominente habe er beschützt, im Golfkrieg habe er geheime Missionen erfüllt, er sei Informatiker und Kampfschwimmer, besitze drei Wohnungen und Grundstücke in Berlin-Wannsee und viele Schulden. Er erzählt viel. Er ist ein blonder Hüne, der vor der Haft noch hünenhafter Hanteln hob. Gestern sei der kurz geschorene Typ vom Nachbartisch in seine Zelle gekommen, um ihn zu bedrohen. „Ich hab mich nur vor ihm abgebaut, und Ruhe ist gewesen“, sagt er. Gefängnisgeschichten.
Eine oliv gekleidete Wärterin betritt den Besuchsraum. Sie schlendert von Tisch zu Tisch und sagt: „Kommen Sie langsam zum Ende?“ und zieht die Stimme hoch, als sei es eine Frage, dabei ist es keine, sondern 16 Uhr. Das Pärchen knutscht noch einmal. Der Vater küsst den Sohn auf die Wange, die Frau sucht nach dem Autoschlüssel und der Empfangswärter nach den Pässen.
Jeff will auch raus aus Düppel, will verlegt werden nach Tegel. Er hat es beantragt bei seinem Sozialarbeiter in Düppel. Der sagt: „Wenn du die Füße nicht ruhig hältst, kommst du nach Tegel“, und lehnte den Antrag dennoch ab. Anträge bescheiden die Sozialarbeiter nach Gutdünken – ohne feste Regeln. Jeff sagt: „Es gibt auch Charakterkriminalität.“
Im Knast herrscht eine eigene Hackordnung. „Bringe niemandem etwas mit, worum er dich bittet“, ist eine eiserne Regel, denn der, der bittet, könnte nur bitten, weil er dem Sozialarbeiter stecken will, wer der Bitte nachkommt. Das bringt Bonuspunkte für den, der reinlegt.
Jeff sitzt an dem großen weißen Tisch in dem kleinen Atelier der Freien Hilfe e. V. in Berlin-Prenzlauer Berg. Seit zehn Jahren kümmert sich der Verein um Knackis. An den Wänden hängen Gemälde von Gefangenen. Jeff schaut prüfend auf sein Bild. Es handelt von Zeit – in Maronenbraun und Kaffeebraun, Sandbeige und Dunkelrot. Rechts ein Ziffernblatt, oben eine Zeitleiste, Zeiger schweben in hellbrauner Schwerelosigkeit. Links steht ein Mensch in filigranen Strichen angedeutet. Er hat einen riesigen Fuß und einen noch größeren großen Zeh mit dickem Nagel.
„Die machen dich psychisch fertig“, sagt Jeff. Der Meister der Gefängnisschreinerei hatte ihm eine Trainingsbank gebaut, damit er weiter seine Bizepse pflegen konnte. „Hättest mich mal vorher sehen sollen“, sagt er. Die Bank war auf einmal weg. Er fragte den Wärter: „Wo ist die Bank?“ Der Wärter antwortete: „Ich muss mich umziehen. Dann sage ich es dir.“ Stunden vergingen. Schließlich fragte Jeff: „Ich warte noch. Wo ist die Bank?“ Der Wärter fragte den Schwarzen: „Bin ich dein Neger?“ Also ging Jeff zu seinem Sozialarbeiter und fragte: „Wo ist die Bank?“ Der antwortete: „Ich sperr dir den Freigang.“
Jeff kam vor fast zwanzig Jahren aus einem afrikanischen Land, in das bis heute nicht abgeschoben werden darf. Wegen Drogendealerei wurde er zu dreineinhalb Jahren verurteilt. Die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung wurde ihm entzogen und die Wohnung gekündigt. Drei Monate länger hätte das Sozialamt die Miete zahlen müssen, dann hätte er Freigang beantragen, eine Arbeit als Betriebstechniker finden und die Wohnung selbst bezahlen können. So aber musste er die Möbel zur Recyclingstelle bringen und die Schlüssel abgegeben.
Heute beschäftigt ihn der Senat für 220 Mark im Monat. Jeff malert Tag für Tag die Gefängnismauern des Frauenknasts. Das gilt nicht als Arbeit. Im offenen Vollzug bekommt man Freigang, wenn man richtig arbeitet, in fester Anstellung. Wenn man für den Senat schuftet, bekommt man Ausgang. Zunächst 30 Stunden pro Monat, dann 48 und schließlich 60 nach einem halben Jahr. Freigang mit richtiger Arbeit ist besser als Ausgang. Da schläft man nur noch im Knast.
„Bah, ich hatte so’n richtigen Steinpopel heute Morgen“, sagt Laure. Josi sagt: „Bah“ und pinselt weiter. Die beiden Mädchen sitzen Jeff gegenüber und malen. Josi hat sich eine Karte mit einer dicken, bunten Frau mitgebracht, die sie abmalt. Sie sind aus der Nachbarschaft und besuchen oft die Freie Hilfe. Jeder kann in das Atelier kommen. Der Verein bietet Mal- und Computerkurse, hilft, Schuldenberge zu bewältigen und Anträge zu stellen für Ausbildung, Wohnung oder Job.
Wenn Jeff zur Freien Hilfe kommt, hat er einen ganzen Nachmittag für sich. Jeff malt noch einen Zeiger in Dunkelrot. Vor ein paar Monaten gefielen ihm noch andere Motive und andere Farben. Kräftige Farben und afrikanische Motive: Ein Mond und gegenüber die Sonne, eine Frau mit einem Kind im Arm, eine große Hand, die blau einige Wassertropfen auf die ockerfarbene Erde fallen lässt.
Jeff erzählt von dem Indianer aus Peru, der auch in Düppel einsaß. Am Montag sollte er rauskommen. Am Sonntag kamen die Beamten und fragten ihn nach seinem Pass. Der Pass sei nötig, sagten sie, um die Entlassungpapiere vorzubereiten. Er gab ihnen den Pass und sie brachten den Pass zur Ausländerpolizei und die holte den Indianer ab und brachte ihn zum Flughafen. Seine zwei Kinder blieben in Deutschland. Gefängnisgeschichten.
Jeff sagt: „Der Indianer war blöd.“ Jeff will nicht zurück in das afrikanische Land, in dem er keinen Menschen kennt. Seine Eltern und Geschwister sind schon vor langer Zeit ausgewandert. Dennoch drohen sie ihm, dass er zurückmuss. „Als Ausländer ist es noch beschissener im Knast als als Deutscher.“
Jeff stellt sich einen Meter vor sein Bild, betrachtet es eingehend, löst das Klebeband vom Tisch und sagt nachdenklich: „Sie machen dich schlechter, als du vorher warst.“
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