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Total weich gekocht

Auf dem Markt von Kumasi in Ghana: Schwindelerregende Gerüche, Körper en masse und Esskultur mit ganz besonderen Qualitäten

von ANDREAS KIRCHGÄSSNER

Als die Perlhuhneier heute morgen in der Campingpfanne nicht stocken wollten, ahnte ich es bereits. Die dünner werdende Flamme bestätigte meine Befürchtungen. Entweder ich würde von nun an alle Mahlzeiten in überteuerten „europäischen“ Restaurants zu mir nehmen müssen oder aber ich fände hier im ghanaischen Kumasi, abseits der Hauptstadt Accra, tatsächlich eine Gaskartusche.

Die Wirtin meiner Unterkunft hatte auf meine diesbezügliche Frage mit den hierzulande Besorgnis erregenden Worten „no problem“ geantwortet und mir neben dem Markt einen Laden genannt. Diese Adresse hatte sie mir auch schon für Hemden, Badeschlappen und eine neue Uhr empfohlen. Der Laden wird jemandem aus ihrer Verwandtschaft gehören. Auf dem Central Market jedoch, so hat man mir von zuverlässiger Seite versichert, bekommt man außer Flugzeugen und Schiffen alles.

Nun sitze ich in einem Brutkasten von Taxi, in einem endlosen Stau, im Dunst der Abgase, pausenlos umworben von kleinen und großen Händlern, die mir die breite Palette ihrer „Kurzwaren“ von Kaugummis bis zu Buschratten anbieten. Im Stop-and-go-Verkehr rücken wir langsam den Berg hinab auf den Markt vor, der sich als eine flimmernde Masse aus Bretterbuden und sich bewegenden Menschen, bunten Waren und glitzernden Wellblechdächern ausdehnt.

Dann plötzlich sitzen wir im Getümmel fest. Vor uns dicht an dicht Menschenmengen, Marktstände, Bretterverschläge, kleine Feuer. Schon kleben Hände an den Seitenfenstern und platt gedrückte Nasen an der Windschutzscheibe. Alle starren mich an. Ich zahle und will raus, aber die Tür lässt sich nicht gegen die Drängenden öffnen. Der Taxifahrer wendet sich freundlich zu mir um und fragt etwas, was ich nicht verstehe, weil er Akan spricht. Darauf ruft er durchs geöffnete Fenster ins Getümmel hinein, und eine Bewegung entsteht, aus der ein junger Mann hervortritt und mir die Frage des Taxifahrers übersetzt: Ob ich nicht lieber einen Führer mieten wolle. Ich will nur aus dem siedenden Brutkasten heraus. Der Übersetzer verscheucht mit einer lässigen Handbewegung die Leute vor meiner Tür. Der Taxifahrer setzt mit aufheulendem Motor und exzessivem Gehupe zurück. Ohne mich umzusehen, stürze ich in die Menge.

Die Gerüche verschlagen mir den Atem. Aus den Gräben steigt Gestank von Exkrementen, von faulendem Gemüse und Tierkadavern. Der Dunst beißt im Hals. Direkt hineingemengt jedoch: speicheltreibende Düfte. Mandelgeruch, die Süße gebratener Kochbananen. Und säuerlich Yams, Maniok. Dann wieder Hirsebier, das sie diapalo nennen und das nach Urin riecht. Und Pfefferschoten. Gerüche bis in den Magen. Was mache ich mit dem Hunger? Jeder weiß, dass sich hier Salmonellen, Amöben, Bazillen tummeln.

Stimmen drängen auf mich ein: „Brother, come, come, buy me!“ Überall leiert aus Rekordern Reggae, immer volle Lautstärke, bis jede Melodie untergeht im dröhnenden Klangteppich. Um mich herum ein Gewirr von Körpern. Bäuche im Rücken, die mich schieben. Ich stoße an die Geschwulst eines Bauchnabels. „Sorry, könnten Sie mir sagen, wo ich eine Gaskartusche finde?“ Leiber. Ihr Abdruck unter meinen Schulterblättern. Dann Hände, tastende, beiläufig an mir nestelnde Hände, mich drückende, drängende Hände, und eine zahnlose Alte prüft die Qualität meines Haares. Vornüber schiebt es mich gegen ein mächtiges Gesäß. Es kichert, und ich hauche mein „Sorry, could you please tell me . . .“, während ich noch tiefer in diese Weiche gepresst werde.

Der Boden ist übersät mit Körben, Schüsseln, Kürbisschalen, darin rot das Palmöl. Maggiwürfel zu kleinen Bauwerken getürmt, Salz in Plastiktütchen, Palmöl in Benzinkanistern, deutsche Kondensmilch für den dünnen Nescafé. Und Uhren, auf denen „Cartier“ steht. Ich stocke.

Während mich Menschenwellen fortzuschwemmen drohen, zeige ich wie ein Taubstummer, schwankend und fuchtelnd, auf eines der Exemplare. „5.000!“ Ein kleiner Junge springt hinter dem Stand hervor und offeriert mir eine „Rolex“. Ich spüre, ich bin seine Beute. Stur zeige ich auf die „Cartier“. Er lacht und reicht sie mir: „6.000!“ Ich reiße allen Mut zusammen und sage: „4.500!“ „Okay!“, willigt er sofort ein, und ich weiß, dass ich einen Fehler begangen habe. Ich halte die Uhr ans Ohr. Sie tickt. Hastig zücke ich das Geld und verschwinde im Getümmel.

Neue Formen zeichnen sich ab, für Augenblicke. Palmolive-Seife neben Nägeln neben Kürbisgeschirr neben Plunder aus deutschen Altkleidersammlungen. Oburoni wawu nennen ihn die Ashanti, „Kleider der toten Weißen“. Plötzlich sehe ich getrocknete Affenköpfe, Pferdehaarwedel, Kaurimuscheln und zu Mikadohaufen zusammengeworfene Stacheltierstachel. Ein Blick, und sie lösen sich auf, vermengen sich mit Tönen, Gerüchen. Ich taste mich vorwärts, seitwärts, rückwärts.

„Durst“, denke ich, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres. Ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, dem die Nase läuft und das mit dem Handrücken immer wieder den Rotz wegholt, hebt mitten in der Menge den Eimer vom Kopf, sehr geschickt, wie ich finde, aber trotzdem. Sie öffnet den Eimer und fischt eine Blechdose aus dem Wasser, die sie mit ihren Rotzfingern zu säubern sucht und dann füllt, immerhin großzügig bemessen. Ich trinke in einem Zug und verlange eine weitere Füllung und trinke wieder. Es schmeckt wie der Apfelsaft meiner Kindheit.

Plötzlich stürzt die Nacht herein. An den Ständen werden Petroleumleuchten aus alten Glühbirnen und Kondensmilchdosen entzündet. Ruß steigt auf, und die Luft füllt sich mit Petroleumdunst. Im unwirklichen Licht eröffnen Garküchen. Man hockt beisammen über Näpfen, verschlingt still und konzentriert. Notdürftig und äußerst sparsam wird das benutzte Geschirr in Wasser getunkt, dann wiederverwendet. Und in angemessenem Abstand hocken Kinder mit Konservendosen und versuchen, Reste zu ergattern. Der Anblick erinnert mich daran, wie lange ich selbst nicht mehr gegessen habe.

Schon sitze ich auf einem Brett neben anderen Hungrigen. Ein Kind bringt mir eine Blechbüchse voll Wasser, in die ich meine Fingerspitzen tauche. Man reicht mir Schüsseln, darin Seen dunkler Flüssigkeit, in deren Mitte Inseln aus heller Pampe herausragen. Ich sauge Pfefferdunst in die Nase, und der Damm ist gebrochen.

Mit der rechten Hand greife ich in den Brei. Er ist kochend heiß, und ich ziehe unwillkürlich die Hand zurück. Der Brei hängt an einem Stück, und es gelingt mir nicht, eine mundgerechte Portion zu lösen. Er klebt und zieht Fäden, die ich von der Masse kaum losbekomme. Notgedrungen zertrenne ich mit Daumen und Zeigefinger die Fäden, bis die butterweiche Masse ganz losgelöst in der Hand liegt und zwischen den Fingern hindurchzuquellen beginnt. Schnell tauche ich sie in die dunkle Soße. Verbrenne mir die Finger, ohne nennenswert Flüssigkeit mit dem Brei in Berührung zu bringen. Den ersten Happen streiche ich ohne Soße in den Mund. Und schon bereue ich, die Masse nicht irgendwo anders hin befördert zu haben. Eine geschmacksneutrale Paste füllt die Mundhöhle, verklebt alle Ecken und Winkel. Ich würge sie herunter.

Die nächste Portion, die ich dem Mutterbrei entreiße, versenke ich einfach in der Soße, bis sie voll gesogen ist. Die gesättigte Masse führe ich schnell zum Mund, um nach dem großen Nichts nun in den Genuss von Würze zu kommen. Mir stockt der Atem. In ihrer Konzentration absorbiert die Schärfe jeden definierbaren Geschmack. Mein Atem wird zu einer Art Hecheln. Meine Augen verwandeln sich in überlaufende Pfützen. „Wasser!“, wende ich mich an die Umsitzenden, die sich unbeirrt weiter die Münder voll stopfen, als wäre das alles zum Verzehr geeignet.

Meine Nachbarin schiebt mir den Napf zu, in dem wir unsere Finger gereinigt hatten. Ich stürze das Wasser in mich hinein. Ob das Essen schlecht war, fragt sie. „Es war gar kein Essen“, gebe ich zurück. „Schön“, entgegnet sie, „ich heiße Abi.“ Ob sie weiß, wo ich in Kumasi einen gas cylinder . . . meine Hände formen umständlich, was ich nicht beschreiben kann. Sie verfällt in schallendes Gelächter.

Vom Autor erscheint demnächst der Afrikaroman „Zeitverlust“ im Gollenstein Verlag.

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