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„Es ist ein unsicheres Gewerbe“

Lieber studieren und fotografieren statt Babys zu wickeln: In einem ihrer letzten Interviews sprach Gisèle Freund über das Goldene Zeitalter der Reportage, die Emanzipation und über ihren Weg in die Fotografie

taz: Madame Freund, zunächst eine so einfache wie nahe liegende Frage: Wie Sind Sie zur Fotografie gekommen?

Gisèle Freund: Wahrscheinlich nicht zuletzt durch meinen Vater, er war ein großer Bildersammler und nahm mich oft mit ins Museum. Außerdem kam ich durch ihn ständig mit befreundeten Malern zusammen, ich stamme aus einer der Kunst sehr aufgeschlossenen bürgerlichen Familie.

Hat Ihr Vater Sie auch zum Studium ermutigt?

Im Gegenteil, nach der Schule wurde ich in eine Haushaltsschule gesteckt, wo ich lernte, Babys zu wickeln und zu kochen. Gleichzeitig ging ich aber weiter zur Schule und überzeugte den Direktor, dass er mich bleiben ließ, weil ich mein Abitur machen wollte. Mein Vater war der Ansicht, es lohne sich nicht, ein Mädchen studieren zu lassen.

Dennoch haben Sie sich durchgesetzt und Soziologie studiert. Als Ihre Familie 1933 ins französische Exil ging, mussten Sie Ihr Studium unterbrechen ...

Ich hatte in Frankfurt angefangen, Kunstsoziologie zu studieren, und da ich seit meiner Kindheit eine leidenschaftliche Bewunderin der Fotografie bin, ging es in meiner Abschlussarbeit um die Geschichte der Fotografie. Um mir mein Studium und meinen Lebensunterhalt zu finanzieren, fing ich im französischen Exil an, für Zeitungen zu fotografieren, das waren zum Beispiel Reportagen über die Börse, die ja direkt neben der Pariser Nationalbibliothek liegt. Danach wurde das Fotografieren mein Hauptberuf.

Es war doch sicher nicht so einfach, sich dann richtig zu professionalisieren, oder?

Es ergab sich eigentlich. 1936 wurde das Life-Magazin gegründet, ich war eine der ersten Mitarbeiterinnen, und meine ersten Reportagen erschienen dort. Zwei Jahre später kam der Farbfilm auf den Markt, den ich sofort verwendete. Ich fing an, die Leute zu fotografieren, mit denen ich zu tun hatte, die um mich herum lebten, und da ich in einem sehr literarischen Milieu verkehrte, waren dies vor allem Schriftsteller.

Ich lernte Jean Paulhan und die Buchhändlerin Adrienne Monnier kennen, die zwischen den beiden Weltkriegen eine enorm wichtige Figur in der literarischen Welt war. Sie hatte eine Buchhandlung in der Rue de l’Odéon, direkt gegenüber der legendären von Sylvia Beach: Ich fotografierte diese ganzen Schriftsteller am Anfang, ohne dafür bezahlt zu werden. Und weil diese Freundschaft und nicht das Geld uns verband, sind diese Fotos das geworden, was sie sind. Es war gewissermaßen das goldene Zeitalter der Reportage.

Das fand zu einer Zeit statt, als die so genannte Selbstverwirklichung noch keine Selbstverständlichkeit war, wie ist Ihr Mann mit Ihrem Beruf umgegangen?

Er akzeptierte die Tatsache, dass ich unabhängig sein wollte, und da wir keine Kinder hatten, war das auch kein Problem. Als Mutter hätte ich nie die vielen Reportage-Reisen unternehmen können. Ich glaube, das war auch der Grund, weshalb eine Frau wie Simone de Beauvoir keine Kinder hatte, sie wollte sich eben selbst verwirklichen. Sehen Sie, Kinder oder nicht, das war damals auch eine Geldfrage, man brauchte eben ein Kindermädchen. Eine befreundete Schriftstellerin erzählte mir zum Beispiel, dass sie sechs Stunden am Tag in einem Café schrieb, weil sie zu Hause keine Ruhe hatte. Nathalie Sarraute zum Beispiel hat auch in einem Café gearbeitet. Ich selbst hatte eben zwei Berufe: Die Fotografie und den Haushalt. In den 30er-Jahren hätte ich ein Kind haben können, aber auf Grund der materiellen Umstände konnte ich mir diesen Luxus nicht leisten.

Hatten Sie jemals Existenzängste?

Ich habe eigentlich mein ganzes Leben lang in materieller Unsicherheit gelebt. Aber man muss einfach wissen, was man vom Leben will: die Freiheit mit allen Risiken oder einen sicheren Job, bei dem Sie zwar jeden Monat das gleiche Geld auf dem Konto haben, ansonsten aber ein ziemlich monotones Dasein fristen. Die Fotografie ist nun mal ein unsicheres Gewerbe. Und man muss die Freiheit schon sehr lieben, um diesen Beruf auszuüben. Außerdem braucht man eine außerordentliche Gesundheit und ziemlichen Mut.

Inwiefern Mut?

Auf den Reportagereisen zum Beispiel wurde ich als Frau von den Männern häufig als Objekt betrachtet, vor allem in Lateinamerika, wo ich ja viel gearbeitet habe. Da musste ich mich manchmal richtig verteidigen. Und dann gab es wieder Reportagen, die ich einfach nicht machen konnte. Zum Beispiel sollte ich in Indien in 5.000 Meter Höhe Minen fotografieren. Aber die abergläubischen Inder wollten mich nicht in die Mine hineinlassen, da sie meinten, das bringe Unglück.

taz: Wenn Sie zurückblicken, finden Sie, dass sich die Situation für Frauen Ihres Schlages erheblich verbessert hat?

Ja und nein. In Amerika zum Beispiel haben die Frauen noch nicht allzu viel zu sagen, jedenfalls weniger als in Frankreich, was auch mit dem amerikanischen Puritanismus zusammenhänt. Jedenfalls gibt es immer noch viel zu wenige Frauen, die zum Beispiel in der Wirtschaft wichtige Positionen haben. Angesichts der Arbeitslosigkeit sind es immer die Frauen, die zuerst entlassen werden. Es ist schon unglaublich, wenn man sich vorstellt, dass wir vor hundert Jahren nicht mal regulär zur Schule gehen konnten. Ein paar Unterrichtsstunden zu Hause, und das war’s. Manchmal kommt es mir vor, als läge das alles noch gar nicht so lange zurück. Ihr wisst ja gar nicht, was eure Generation für ein Glück hat. Interview: MARION KALTER

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