: Tausend Jahre Sex and Crime
Dramen, Essays, Romane: Laurent Gaudé ist fest zur Autorschaft entschlossen. Und hervorragend. Im Schauspiel Essen wurde sein Stück „Kampfhunde“ uraufgeführt, das dem jungen französischen Autor bereits den Vergleich mit Bernard-Marie Koltès einbrachte
von MORTON KANTSTEINER
„Niemand kann es verstehen“ sind die ersten Worte, die Laurent Gaudé veröffentlicht hat, der erste Satz einer Kurzgeschichte. Gaudé, Jahrgang 1972, hat sich gleich in das größte Repräsentationsproblem des 20. Jahrhunderts gestürzt: die Schwierigkeit, den Holocaust darzustellen. Der Ich-Erzähler der Geschichte behauptet, er sei im Vernichtungslager geboren. Drei Männer hätten seiner Mutter dabei geholfen. An diese vier hat der Erzähler zu erinnern, auch wenn nicht alles über sie bekannt, geschweige denn vorstellbar ist. Damit hat Gaudé selbst Claude Lanzmann beeindruckt. Der Shoah-Dokumentarist hat Gaudés Kurzgeschichte in der Zeitschrift Les Temps Modernes nachgedruckt.
Laurent Gaudé stürmt und drängt. Er nimmt sich die dicksten Bretter vor, egal wie viele vor ihm daran herumgebohrt haben. Zur Autorschaft fest entschlossen, häuft er Manuskripte an: Stücke, Essays, Romane. Den Freiraum, den ihm seine Pariser Doktorandenstelle in Theaterwissenschaften lässt, nutzt er gründlich aus. Es könnten schlechtere Zeiten kommen. Vorerst sind sie hervorragend. Drei dramatische Texte sind verlegt, über einen Roman wird verhandelt. Das Théâtre National in Straßburg und die Comédie Française wollen die ersten beiden Stücke inszenieren. Das jüngste – „Kampfhunde“ – wurde jetzt in der deutschen Fassung uraufgeführt: Am Wochenende war im Essener Schauspiel zum ersten Mal ein Text von Gaudé auf der Bühne zu sehen.
Der stolz angereiste Autor stellte bei dieser Gelegenheit dem deutschen Publikum auch gleich seinen Erstling in einer Lesung vor. In „Onysos le furieux“ hat Laurent Gaudé seinem Willen zur Literatur freien Lauf gelassen: Den Mythos von Dionysos, dem wilden Ahnherrn des Theaters, mischt er geschickt rhythmisiert mit anderen, und der Druck von ein paar tausend Jahren Geistesgeschichte entweicht in Sex und Crime. Blutige Fleischklumpen und ekstatische Frauenhorden satt, Euripides enthemmt. Gaudé beschwört einen „Ozean von Sperma, Tränen und Wein“, der kaum den Alltag benetzt.
Seine „Kampfhunde“ hat Gaudé strenger an die Leine genommen. Zwar dräuen wieder Traditionen: Die zentralen Figuren sind ein Mafiaboss und sein Zögling, der seinen Gönner ödipal aus dem Weg schafft. Für Verschnaufpausen sorgen zwei komische Totengräber, die ebenfalls auf eine Reihe dramatischer Ahnen zurückblicken können. Aber das Erbe dient diesmal unaufdringlich einer neuen Geschichte.
Der Mafiaboss braucht einen Nachfolger. Er sucht sich einen jungen Mann aus und lässt seine Familie umbringen, um ihn an sich zu binden. Vorübergehend scheint das zu funktionieren, dann hebt das Morden an, dem nur Randfiguren entrinnen. Geschickt bremst und dirigiert der Autor den Informationsfluss, was für ungemeine Spannung sorgt. Aber das Stück bietet noch viel mehr, besonders in seiner Nähe zum Theater von Bernard-Marie Koltès. Für einen Debütanten ist es undankbar, neben einen Heroen der französischen Gegenwartsdramatik gestellt zu werden. Aber der Vergleich lässt sich kaum umgehen. Weil Koltès ein Vorbild für Gaudé ist, weil derselbe Mann, Hubert Gignoux, beide entdeckt hat – und weil es einfach Parallelen gibt. Aus einfachen Dialogen lässt Gaudé elegante Reflexionen wachsen, kühl und präzise in der Wortwahl, nachdrücklich im Rhythmus. Die Figuren handeln beständig ihre Positionen aus. Sie behaupten ihre Macht, kämpfen darum, ihre eigene Rolle zu definieren, und suchen nach dem passenden Ton: „Lass mir etwas Zeit“, sagt etwa der Boss. „Ich muss lernen, wie ein Vater zu sprechen.“
Gaudé wagt sich dabei nicht so weit vom handlungstragenden Dialog weg wie Koltès. Auch bleibt seine Analyse der Beziehungen gröber. Oft verweist sie nur auf die Macht des Geldes, wo Koltès noch einkalkuliert, wie die Deckenbeleuchtung das Gegenüber zweier Menschen beeinflusst. In der Essener Aufführung ist für solche Feinheiten aber kein Platz. Schlicht und in blaues Licht getaucht, bietet die Bühne (Wolf Münzner) gute Bedingungen, Sätze abheben zu lassen. Doch Jürgen Bosse steht in seiner Inszenierung nicht der Sinn nach sprachlichen Abwegen. Er lässt flott durchspielen, selten bleibt Zeit für Pausen, die dem Text Spielraum gegenüber der Handlung geben könnten. Der Mafiaboss von Hannes Fischer interessiert sich nicht für die Macht der Sprache, er durchquert die Dialoge, ohne auf Triumphe und Niederlagen zu achten, die sie ihm bereiten. Nur seine Frau alias Catrin Flick ist da sensibel. Sie tritt souveräner auf als alle anderen und kann doch unter einem falschen Wort zusammenbrechen.
Sein Stück habe auf ihn etwas trocken gewirkt, wie ein kahles Handlungsgerüst, sagte der Autor nachher. Das liege daran, dass er kein Deutsch verstehe. Ganz ernst meinte er das, nicht nur höflich.
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