: Darf das Volk entscheiden?
Noch mehr Entscheidungen überfordern das Volk, meint Daniel Haufler, Historiker. Schon heute seien die Möglichkeiten der Mitbestimmung immens. Die Demokratie in Deutschland funktioniere einwandfrei. Wer dennoch auf Volksentscheide auf Bundesebene setze, verspreche mehr, als er halten könne.
Wenn schon Populismus, dann aber richtig. Das ist Franz Münteferings Konzept. Der will mal so eben bundesweite Volksentscheide einführen. Und weil des Volkes Stimme ihm so wichtig ist, sollen die Bürger auch noch über die Kandidaten abstimmen, die von der SPD für Wahlen aufgestellt werden. Das kommt bei den Wählern gut an – besonders vor Landtagswahlen.
Münteferings Idee ist ebenso abwegig wie scheinheilig. Abwegig, weil sie jeglicher historischer Erkenntnis widerspricht. Und scheinheilig, weil er verschweigt, worüber und unter welchen Bedingungen die Bürger denn abstimmen sollen. Doch der Reihe nach: In Deutschland hat man nach den Erfahrungen der Weimarer Republik auf plebiszitäre Elemente in der Verfassung bewusst verzichtet. Die Staatsgewalt „wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt“, heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik – und mit Abstimmungen sind nach einhelliger Meinung der Gelehrten lediglich solche über die Neugliederung der Länder gemeint (etwa die Abstimmung über den Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg). Man formte nach den Modellen der anderen Demokratien eine Verfassung und entschied sich für das Verhältniswahlrecht, das den Willen der Bürger besser spiegelt als das Mehrheitswahlrecht in England oder Frankreich, bei dem die Minderheitsvoten entwertet werden. Die bundesrepublikanische Demokratie funktioniert im Bund einwandfrei.
Zudem ist die Bundesrepublik als föderaler Staat organisiert. In den Ländern können die Bürger dabei nicht nur über ihre Regierungen bestimmen. Sie wählen zudem Land- und Stadträte, Bürgermeister und Kreistagsabgeordnete. Auf dieser Ebene wurden die Wahlverfahren seit langem immer differenzierter. In Bayern oder Baden-Württemberg etwa haben die Wähler nicht nur zwei Stimmen – für eine Partei und einen Direktkandidaten –, sondern sie können Kandidaten, die weit hinten auf den Parteilisten versteckt sind, so viele Stimmen geben, dass sie direkt in den Landtag einziehen. Oder Bürgermeisterwahlen: Mittlerweile haben alle Flächenstaaten die Direktwahl der Bürgermeister eingeführt; Gleiches gilt für die Landräte.
Es kommt hinzu, dass die Parteien auf kommunaler Ebene ohnehin nicht den Einfluss haben, den ihnen Kritiker gerne zuschreiben. In Ländern wie Rheinland-Pfalz dominieren die freien Wählergemeinschaften – und in Baden-Württemberg gehören mehr als 50 Prozent der Bürgermeister keiner Partei an. In den Kommunen und Kreisen beteiligen sich die Bürger stärker, als gemeinhin angenommen. Dabei ist der Einfluss von Bürgerinitiativen nicht einmal berücksichtigt, die seit den Siebzigerjahren zum festen Bestandteil des politischen Lebens der Gemeinden und Städte zählen. Zudem bieten viele Länderverfasssungen die Möglichkeit von Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksentscheidungen. Zuletzt wurde etwa in Bayern über eine Schulreform abgestimmt.
Die Bürger werden also keineswegs nur alle vier Jahre zur Stimmabgabe gebeten. Sie entscheiden in den verschiedensten Wahlen und Abstimmungen. Und nicht zuletzt: Viele arbeiten in Wählergemeinschaften und Parteien mit, sind Abgeordnete in Stadtparlamenten, Kreistagen oder Landtagen. Die Verfassungen von Bund und Ländern räumen den Bürgern viele Rechte auf Beteiligung ein. Und die nehmen ihre Rechte heute mehr denn je auch wahr. Dieser Aspekt wird derzeit gerne vergessen oder gar geleugnet. Ja, Propagandisten des neuen „Volkspopulismus“ wie Müntefering wollen die Wähler für dumm verkaufen, wenn sie ihnen künftig mehr Rechte versprechen.
Denn offen bleibt die Frage, wie eine Volksabstimmungsdemokratie aussehen soll. Sollen die Bürger etwa über den Ausstieg aus der Atomenergie abstimmen oder die Rettung von Holzmann? Sollen sie bestimmen, ab wann Sozialhilfe gezahlt wird und wie teuer der Sprit sein darf? Wie kommt man überhaupt darauf, dass die Menschen draußen im Land kompetenter urteilen könnten als die Politiker, die sie wählen. Diese Annahme entbehrt jeder Grundlage. Auch können Volksentscheide weder Amtsmissbrauch noch Korruption verhindern: Selbst wenn ein Gesetz von den Bürgern direkt verabschiedet wird, obliegt seine Ausführung Politikern und Behörden. Oder sollten wir gleich auch noch Bürgerbeamte einführen, die jeglichen Missbrauch kontrollieren?
Fazit: Die Bürger in Deutschland verfügen über eine Vielzahl von Rechten. Diese Möglichkeiten der Mitgestaltung könnten zwar noch erweitert werden – vor allem auf der kommunalen Ebene, in dem Bereich, in dem jeder seine praktischen Erfahrungen sinnvoll einbringen kann. Aber allgemein gilt: Wer heute mehr Rechte für „das Volk“ fordert, überfordert es.
Daniel Haufler (38) ist seit 1999 Redakteur im taz-Ressort Meinung
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