: Sprechen vom Unsagbaren
„Rwanda 1994“: Die Auseinandersetzungen um die Brüsseler Uraufführung des ruandisch-belgischen Stückes könnten eine neue Afrikapolitik der Ex-Kolonialmacht einleiten
von PETER SCHMIDT
„Ich bin tot, sie haben mich getötet, ich schlafe nicht, ich habe keinen Frieden.“ Der Chor der Toten verstummt, nur aus dem Orchestergraben dringen noch einzelne Klänge. An dieser Stelle von „Rwanda 1994“ sind zwei der wohl schwerlastendsten Theaterstunden dieser Saison vergangen, das eigentliche Stück jedoch liegt noch im Anfang.
Die Erinnerung an den afrikanischen Genozid ist den Überlebenden zur Verantwortung geworden, davon zu zeugen, wozu der Mensch imstande ist, wenn seine Menschlichkeit verlischt. Man spürt diese Verantwortung, wenn zu Beginn der Aufführung die Autorin Yolanda Mukagasana, im vergangenen Jahr mit dem Preis für Internationale Verständigung und Menschenrechte ausgezeichnet, allein auf der leeren Bühne des Brüsseler Nationaltheaters sitzt. Und zu sprechen beginnt. Zu sprechen von jenen Tagen im April 1994, von ihrem Mann und ihren drei Kindern, von denen ihr selbst die Erinnerung an glückliche Momente gemeuchelt wurde. Weil es unmöglich ist, sich nicht des Unerträglichen zu erinnern, das jede andere Erinnerung verwüstet. Dass „die, die es nicht hören wollen, sich als Komplizen des Völkermords offenbaren“, konstatiert ihre brechende Stimme am Ende des langen Monologs in den erstarrten Saal hinein.
Seit über fünf Jahren arbeitet die belgische Theaterkompagnie Groupov unter der Regie Jacques Delcuvelleries an diesem Projekt, zu dem er Autoren, Schauspieler, Komponisten und Tänzer aus Europa und Ruanda zusammengeführt hat. Nachdem im vergangenen Jahr mehrere Voraufführungen stattfanden – unter anderem auf dem Festival d’Avignon –, wurde nun eine vorläufige Endfassung vorgestellt. Ihre Absicht ist es einerseits, den Opfern dieses Genozids die Würde ihrer von den Statistiken ausgelöschten Identität zurückzugeben. Andererseits, die (Kolonial-)Geschichte Ruandas aufzurollen, mit den Mitteln der Kunst nach den Ursachen für die Entgleisung der Menschlichkeit zu forschen. Einhunderttausend massakrierte Menschen pro Woche, über eine Million in drei Monaten. Zahlen, Rekorde, anonyme Masse. Wer ist tot? Wer? fragt das Theater. Jede Zahl war ein Mensch.
Der erste Teil der Produktion versucht dem Zeugnis der Überlebenden gerecht zu werden, indem die Akteure aus Ruanda das Unsagbare durch ihre Worte, ihren Gesang und ihren Tanz anrufen. Der zweite Teil will in der Verknüpfung von Dokumentation und fiktiver Handlung das historische Geschehen aufklären. Eine Fernsehmoderatorin wird durch virtuelle Rachegöttinnen in die Unterwelt getrieben. In Jacob, einem Überlebenden der Schoah, den sie im Interview seine Geschichte erzählen lässt, wählt sie sich ihren Vergil, der sie in die Hölle des afrikanischen Genozids geleitet. Die Schuldigen können so im Gang durch wechselnde Bilder vorgeführt werden: Ein europäischer Präsident, ein UNO-Kommissar, Kolonialherren, das Fernsehen, Kirchenväter – aus den schwarzen Schafen werden die Wölfe vorgekehrt. Überladen von Symbolik bleibt hier die Dramatisierung der Geschichte und der politischen Verantwortung in simplen Wahrheiten stecken und verliert im inkonsequenten Wechsel von Identifikation und Distanz zu den Rollen Glaubwürdigkeit.
Doch trotz dieser Schwächen des Stücks, das auf der Grenze des dem Theater Möglichen bisweilen die Balance verliert, bleibt die Frage nach dem, was der Mensch ist, wo er kein Mensch mehr ist, in tief ergreifendem Schrecken präsent. Fünf Stunden geht „Rwanda 1994“ Fragen nach, die beim Zuschauer jede moralische Sicherheit unmöglich machen und uns mit unserer feigen Entschuldigung der eigenen Machtlosigkeit konfrontieren.
Frühjahr 2000, Belgien. In allen medialen Formen intensiviert sich die öffentliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen in Ruanda. Man beginnt zu sprechen. Zunächst von den Ereignissen, von Hutu und Tutsi, doch mehr und mehr auch von ihren kolonialen Wurzeln. Ruanda scheint in Belgien, anders als in Frankreich, endlich als ein Aufschrei wahrgenommen zu werden, der unerbittlich dazu auffordert, die Kolonialgeschichte aufzuarbeiten und Verantwortung zu übernehmen für die eigene Vergangenheit. Im Umfeld des Stückes „Rwanda 1994“ sind in Brüssel zwei weitere Theaterstücke zu diesem Thema inszeniert worden, eine Ausstellung wird gezeigt, eine Vielzahl von Dokumenten publiziert, Diskussionen und Konferenzen werden abgehalten, die Medien berichten ausführlich. Auch wenn es sich bei manch kultureller Manifestation um den verzweifelten Aktionismus gegen das schlechte Gewissen handelt, so wird doch deutlich, dass in Belgien etwas in Bewegung gekommen ist. Etwas, das viel Vergessenes, Verlogenes und Verschwiegenes aufarbeitet und in dessen Folge eine erneuerte Afrikapolitik entstehen könnte.
Nach vier Stunden der Inszenierung, die subtil von der Komposition Garrett Lists mitgetragen wird, wird ein sechsminütiger Film projiziert. Stumme Bilder des Genozids, die wie ein Spiegel die Rückseite der während der Aufführung geschöpften Bilder in all ihrer unerträglichen Rohheit zurückwerfen. Die Kantate von Bisesero, aufgeführt vom „Chor der Toten“, schließt „Rwanda 1994“, bei dem sich jeder Applaus verbietet, der dann doch stattfindet, so als würde das Klatschen die bösen Geister eines Albtraumes vertreiben können.
„Rwanda 1994“, Regie: Jacques Delcuvellerie. Théâtre National, Brüssel, bis 7. 4. Gastspiel bei der Bonner Biennale am 22. u. 23. 6. 2000
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen