: Das Peinlichkeitsexperiment
„Jeder merkt doch, wie verliebt ich bin“: Für seinen neuen Film „Sehnsucht nach Meer“ hat sich der Wiener Filmemacher Carl Andersen mit einem Teenager-Pärchen in einer Wohnung eingeschlossen
Früher galten die Werke des Wiener Filmemachers Carl Andersen als Trash-und Underground mit viel Busen, Blasen, Blut, Gewalt und komplizierten Geschichten. Kurz nach der Wende kam er nach Berlin, arbeitete hier und da, tauchte plötzlich im Umfeld von Lothar Lambert auf und wechselte von einer starken Bildlichkeit etwas mehr ins Innere; hin zu Filmen, in denen sich er und seine HeldInnen über Liebe und was das so ist, unterhielten, und die Zuschauer bei den Premieren in der „Brotfabrik“ redeten gerne mit.
Ausgangsposition von Carl Andersens sechstem Film ist ein soziales oder psychodynamisches Privatexperiment, das aus den 80ern kommen könnte: Der Filmer, Anfang vierzig, verbringt drei Tage mit zwei Teenagern –Raffaele und Jana – und einer Kamera in seiner Wohnung. Raffaele und Jana sind ein Pärchen, deren Beziehung gerade zu Ende geht. Raffaele hat mit Jana Schluss gemacht; Jana hat sich möglicherweise in den Filmer verliebt, der ihr Vater sein könnte; Raffaeles Verhältnis zu Carl ist recht gespannt; die Position des Filmers ist nicht so ganz klar.
Der Film reiht Monologe seiner Protagonisten in einem schönen Schwarzweiß aneinander. Raffaele und Jana sprechen über ihre Beziehungen zueinander, über ihr Selbstbild, über das filmische Psychoexperiment auf der Suche nach mehr, nur nach was? Der Filmemacher sagt eher wenig. „Wir werden sehen – egal was laufen wird“, sagt die Heldin am Anfang und überlegt, was laufen kann, während die Kamera läuft. Raffaele sagt: „Jetzt sind wir zu dritt in dieser Wohnung. Ich komme nicht mal mit mir allein in einer Wohnung klar.“
Man wartet, dass was geschieht, dass sich jemand auszieht, dass man sich anschreit, irgendwas. Doch es gibt nichts: keine Action, nur Worte; Jana spielt wie eine christliche Jugendgruppe Gitarre und singt was darüber, dass man alles verändern kann, wenn man's nur will. Manchmal benutzt sie Wörter wie „Kennenlernprozess“. Raffaeles latente Agressivität gegenüber Jana und Andersen scheint noch am ehrlichsten. Irgendwann verlässt Raffaele die Wohnung und lässt die beiden allein. Die sitzen dann gemeinsam beim Frühstück – es ist Janas Geburtstag, den sie verdrängt hat – und man weiß nicht genau: Haben sie miteinander geschlafen oder nicht. Carl berührt Janas Arm, irgendwie ungelenk, irgendwie so gestört, sehnsüchtig scheiternd, dass sie seine Berührung nicht erwidern kann. Die Zurückhaltung, die er während des ganzen Films zeigt, hat etwas Trauriges und auch Perverses, von dem beide infiziert werden. Im Hintergrund hört man Meeresrauschen. Die Kamera zeigt die Peinlichkeit eines Scheiterns von Sehnsüchten nach irgendwas, das sich nicht abbilden lässt.
Andersens „Sehnsucht nach Meer“ ist in dem Sinne radikal, als dass er sich nicht scheut vor der Peinlichkeit einer abgrundtiefen Normalität, deren Teil auch der Filmemacher ist. Nur schade, dass sich der Filmemacher selbst so zurückgenommen hat. Über das Verhältnis zwischen Peinlichem, Authentischem, zwischen Darstellung und Selbsterfahrung (die ja eine Selbstdarstellung ist, die ins eigne Innere zielt), das in den letzten Jahren ja immer häufiger thematisiert wird – von Jan Peters, Schlingensief, Big Brother und all den anderen –, könnte man tagelang nachdenken.
Später, bei einer Fischsoljanka mit Pfefferminztee, erzählt Andersen,dass er schon immer dafür gewesen sei, Privates öffentlich zu machen, und „eigentlich macht man so einen Film ja erst mal für sich“, und zunächst sei es ihm darum gegangen, filmend was rauszukriegen von Jana. Wieso er sich selbst so zurückgenommen habe? – Habe er ja gar nicht: „Jeder merkt doch, wie verliebt ich bin.“
Ein bisschen ärgert er sich über die Schubladen, in die ihn manche gerne stecken, „kaum liefert man mal was anderes als Sex und Gewalt, sind die alle beleidigt“, und sagt dann noch, dass er „immer klaustrophobischer“geworden sei. Das ist der Preis der Selbsterfahrung. Big Brother hat Andersen noch nicht gesehen. Er guckt kein Fernsehn oder nur in der Videothek Negativeland, in der Dunckerstraße, in der er arbeitet. Am Tresen der Videothek „Negativeland“ hängen Blätter. Auf den Blättern steht, dass der Filmemacher Carl Andersen „exhibitionistische“ bzw. „experimentierfreudige Darstellerinnen“ für ein neues „Undergroundfilmprojekt sucht.
DETLEF KUHLBRODT
„Sehnsucht nach Meer“, Deutschland 1999, Realisation: Carl Andersen, Mit Jana Gaspáry, Raffaele Vinci, Carl Andersen, 65 Minuten. Brotfabrik, Prenzlauer Promenade 3, täglich 22 Uhr
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