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Heilige Welten der Höhe

Der Berg Kailash im Westen Tibets ist für Buddhisten und Hindus der Mittelpunkt der Welt. Das Sinnbild göttlicher Präsenz in der Welt zieht auch westliche Tourismus-Pilger verstärkt an

von BERNARD IMHASLY

Der Mittelpunkt der Welt für über eine Milliarde Menschen – Buddhisten, Hindus und Jains – liegt so abgelegen, dass ihn die wenigsten je zu sehen bekommen. Das gehört sich vielleicht für einen mythischen Kraftort, der Himmel und Erde verbindet und der gleichzeitig eine geografische Realität ist.

Kein Berg eignet sich so sehr dafür wie der Kailash, denn er liegt in Tibet, einer noch heute aus bekannten Gründen schwer zugänglichen Region. Und dort, auf dem Dach der Welt, ist er quasi dessen First, der höchste Berg in der höchstgelegenen Westprovinz von Ngari. Im Süden und Westen liegt die politische und geografische Barriere des Himalaja, der einen weiten Bogen um den Kailash macht. Im Norden liegen der Transhimalaja und die leeren Steppen des Changthang. Nur nach Osten, entlang dem Tsang-Po-Fluss, öffnet sich die Region zu den Ortschaften Zentraltibets. Doch auch hier haben Geografie und Politik für Distanz gesorgt. Die Autofahrt von Lhasa dauert mindestens eine Woche, und der schlechte Zustand der Straße lässt den Besucher die Indifferenz spüren, die die Herrscher Tibets dem tibetischen Mittelpunkt der Welt entgegenbringen.

Nun hat sich die Politik geändert, zumindest für die modernen Pilger des Tourismus. Von Lhasa aus können sie in einer poltrigen Fahrt mit Jeeps bis an den Fuß des Kailash fahren. Seit 1994 können sie nun auch einen alten Handelsweg benützen, der ihnen die Annäherung als Pilger erlaubt. Ein Fünf-Tage-Trek – mit Sherpas und Trageseln, Zelten und Kochgeschirr – bringt sie von Simikot in Nordwestnepal über den Nara-Pass nach Taklakot (Purang), dem alten indisch-tibetischen Umschlagplatz für Wolle und Salz. Von dort werden sie mit Jeeps nach Darchen gefahren, dem Ausgangspunkt für Umwanderungen des Berges.

Für die echten Pilger, denen der Kailash nicht nur der Wendepunkt, sondern die „Axis Mundi“ bedeutet, ist der Weg beschwerlicher. Rund 10.000 Tibeter kommen auf wochenlangen Fußwanderungen nach Darchen, und die rund tausend Hindus, Jains und Sikhs, die jedes Jahr aus Indien kommen, müssen eine Zehntagewanderung über den Lipu-Lekh-Pass hinter sich bringen.

Die chinesischen Herrscher Tibets sind gerne bereit, 150 Dollar pro Tag zu kassieren. Sie sind aber weniger großzügig, wenn es darum geht, eine touristische Infrastruktur für einen Berg bereitzustellen, der vielen Menschen der naturhafte Ausdruck einer sakralen Architektur ist. Überall, wo es Siedlungen gibt, müssen auch die Trekker in staatlichen „Trucking Stops“ unterkommen, die jeder Hygiene spotten. Die Zwangsunterkunft in Taklakot ist ein Zwischending aus Ruine und Neubau, ohne funktionierende Toilette und Wasser, dafür aber mit einer aktiven Bettfauna.

Wer das Unglück hat, auf einer Ausgangshöhe von 4.500 Metern höhenkrank zu werden, hat keine Möglichkeit, sofort tiefer zu steigen oder ausgeflogen zu werden. Es gibt, mit Ausnahme eines kleinen tibetischen medizinischen Zentrums in Darchen, keine Zivilspitäler. Transporte müssen von Lhasa aus organisiert werden, und Telefone gibt es in nur in den Garnisonen der Volksarmee.

Warum lässt sich dennoch eine steigende Anzahl von Touristen – letztes Jahr waren es rund 2.000 – von den Widerwärtigkeiten und Risiken nicht abschrecken? Und warum sind es vor allem Berggänger aus Deutschland, der Schweiz und Italien, die die Reise zum heiligen Berg unter die Füße nehmen? Vielleicht ist es die tibetische Landschaft, deren schiere Größe und Klarheit jenes Gefühl der Erhabenheit vermitteln, das der Philosoph Immanuel Kant vor 200 Jahren noch den Schweizer Alpen zugeschrieben hatte. Doch während die Schweiz, in den Worten des Schriftstellers Pascal Bruckner, die Gipfel so weit kolonisiert hat, „dass das Erhabene wieder in die Dimension der friedlichen Schönheit zurückgeführt ist“, bietet Tibet Ansichten, die sich dieser Vereinnahmung entziehen. Die Tiefe der Landschaft, von keinem Baum und von keinem Haus in eine messbare Beziehung gebracht, bringt die eingestanzten Raum-Zeit-Dimensionen durcheinander und saugt den Wanderer auf, statt dass dessen Auge die Landschaft einsaugen kann.

Der einzige Fixpunkt in diesen Weiten ist der Kailash, der nicht von ungefähr für Hindus und Buddhisten zum Sinnbild göttlicher Präsenz in der Welt wurde. Der Berg steigt zu einer Pyramide auf, die in beinahe perfekter Symmetrie auf die Spitze hin zu einem stumpfen Kegel abflacht. Diese Abflachung beschert dem Berg eine ewige Schneekappe, die nach unten von einer Reihe von Felsbändern abgelöst wird, bevor diese in senkrechte Abstürze übergehen, deren Schwarzkontrast die Spitze noch heller glänzen lassen.

Selbst die Chinesen haben es nicht über sich gebracht, das sakrale Verbot einer Besteigung der Bergspitze zu missachten. Auch die Touristen folgen, in einer dreitägigen Umwanderung, dem Pilgerweg, der am Fuß des Bergs entlangführt, bevor er im Norden über den Grat des Dolma La führt, den mit 5.630 Metern physischen und spirituellen Höhepunkt jeder Kailash-Reise – für die Tibeter der schwere Gang durch den Tod zur spirituellen Wiedergeburt.

In der Ebene südlich des Bergs bilden zwei Seen, Mansarovar und Rakhastal, den geografischen Kontrapunkt zum Kailash. Während dessen Kegel für die Hindus das phallische Prinzip des Schöpfergotts Shiva darstellt, gehört der Mansarovar-See Shivas Gemahlin Parvati und symbolisiert das Gefäß des Mutterschoßes. Auch dieser See wird von den Pilgern umwandert, in einer Geste der Verehrung und des Einbezugs des weiblichen Gegenparts.

Einzelne Reiseveranstalter haben begonnen, den Kailash zum Ausgangspunkt von Explorationen zu nehmen. Sie bieten zusätzlich zur Kailash-Umwanderung einen dreitägigen Abstecher nach Tsaparang an, dem lange verschollenen Hauptort des alten buddhistischen Königreichs von Guge. Er erschließt sich erst nach einer atemberaubenden Fahrt durch einen kilometerweiten Canyon, mit tiefen Einschnitten und hunderten von Sandkegeln in grotesken Formationen.

Selbst diese abgelegene Region blieb vor den Horden der Kulturrevolution nicht ganz verschont. In der Bergfestung des Klosterpalasts von Tsaparang sind einige Tempelräume immer noch gefüllt mit dem Schutt zerstörter Buddhastatuen. Doch die nackten Wandpartien, aus denen sie herausgebrochen worden waren, sind umgeben von exquisiten Fresken im kaschmirischen Stil, die das maoistische Wüten beinahe makellos überstanden haben. Vielleicht tragen die modernen Kailash-Pilger ja nun dazu bei, dass diese Kulturstätten restauriert werden können.

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