Der verlorene Ball

Am Ende einer aufregenden Woche darf Nationalspieler Jens Jeremies als eine relevante Figur der neueren Fußballgeschichte gelten

Im Wesentlichen sprach er ja nur ein Wort: „Jämmerlich.“ Aber damit war der Zustand des deutschen Verbandsfußballs auf den Punkt gebracht. Am Donnerstag suspendierte ihn DFB-Teamchef Erich Ribbeck wegen Verletzung des „Ehrenkodex’“ für das nächste Länderspiel. Am Freitag verhinderte DFB-Präsident Egidius Braun mit guten Worten nicht nur seinen sofortigen Rücktritt als Nationalspieler, sondern eine Eskalation der Lage.

Seither darf Jens Jeremies, 26, als Mann der Woche und – zumindest kurzfristig – relevante Figur der neueren deutschen Fußballgeschichte gelten. Der Mann, der sagte, was gesagt werden musste.

Nicht, dass Jeremies irgendetwas Neues erzählt hätte. Gegrummelt wurde seit längerem – und mindestens ein Kollege hatte sogar schon einen roten Kopf, so fest biss er sich auf die Zunge. Inzwischen haben zahlreiche Nationalspieler Jeremies’ Einschätzungen beigepflichtet und sogar präzisiert. Danach stellt sich die Sachlage folgendermaßen dar: Das DFB-Team unterscheidet sich vom Europameisterteam 1996 nicht nur dadurch, dass die Weltklassespieler fehlen. Es hat zwar jetzt einen Teamchef, aber dafür kein Gerüst, keine funktionierende Hierarchie, kein System und keine Entwicklung seit Vogts’ Rücktritt. Hätte Braun Jeremies nicht vom Rücktritt abgehalten, hätten womöglich noch einige dessen Verdacht verifiziert, ob die Juniwochen nicht sinnvoller in einen Urlaub statt in die EM zu investieren seien.

Was für einer ist dieser Jeremies eigentlich? Bild, Ribbecks treues Helferlein bzw. umgekehrt, hatte versucht, Akzeptanz im Volk für einen Rausschmiss zu schaffen, indem sie Jeremies als „Rebellen“, Querulanten und Bruder eines mutmaßlichen Betreibers eines „zweifelhaften Rotlicht-Etablissements in Thailand“ beschrieb.

Andere kennen Jeremies eher als einen stillen Menschen, der normalerweise unauffällig durch die Mixed-Zonen dieser Welt huscht. Seine Jesus-Frisur, seine Freundin und sein sächsischer Dialekt sind Teile seiner Görlitzer Vergangenheit. Auf dem Platz ist er ein hochmoderner Profi. Einer, der von der Entindividualisierung des Weltfußballs profitiert hat. In Topform erhebt ihn zudem eine fast beeindruckende Verbindung von Physis und Willenskraft über alle anderen. Aber er ist kein Medienprofi wie die DFB-Kollegen Bierhoff und Matthäus oder die Bayern-Protagonisten Effenberg und Kahn. Er redet nur dann, wenn er das Gefühl hat, es muss sein.

Bleibt die Frage: Was will Jeremies? Sagen kann man, was ihn als Fußballer auszeichnet. Dass er hinter jedem Ball herrennt. Hinter wirklich jedem. Auch wenn er längst verloren ist. PETER UNFRIED