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Nach dem Doktorspiel

„Eine pornografische Beziehung“ – das müsste dem Titel nach eigentlich ein Film sein, in dem man alles sieht. Aber im Regiedebüt des Belgiers Frédéric Fonteyne sieht man nichts. Jedenfalls nicht das, was man von einem Pärchen aus der Kontaktanzeige erwarten könnte

von JUTTA PRASSE

„Es war eine pornografische Beziehung, es war einfach nur Sex“, erklärt zu Beginn die schöne, zarte, nicht mehr ganz junge Frau lächelnd einem unsichtbaren Interviewer. Dann sehen wir ihn, wie er ganz kurz und von weitem das Pornomagazin zeigt, in dem er ihre Anzeige gefunden hat, und das er – „ich bin ein Romantiker“ – in Plastik eingeschweißt zum Andenken aufbewahrt.

Frédéric Fonteynes Film über eine Frau (Nathalie Baye) und einen Mann (Sergi Lopez) in Paris, die sich unter strikter Wahrung ihrer Anonymität zur Ausübung einer gemeinsamen sehr speziellen sexuellen Vorliebe treffen, verflicht zwei sich ständig ergänzende Zeit- und Bildebenen. Es gibt das Danach der hell ausgeleuchteten Interviews, wo wir wie bei einer dokumentarischen Recherche das Privileg haben, das Erlebte von beiden kommentiert zu bekommen, zu hören, wie jeweils der Mann und die Frau über sich und den anderen sprechen und dabei kleine, aber wahrhaftig nicht unbedeutende Unstimmigkeiten ihrer Erinnerung zu bemerken sind. Und es gibt, aus der Erinnerung der beiden auftauchend, die Szenen ihrer Begegnungen, bei denen wir sie in Aktion beobachten und belauschen können: ihre beherrschte und doch so offenkundige Nervosität beim ersten Augenschein, ihre Vorsicht, ihre Entschlossenheit, ihre in fast unmerklichen Gesten zu erratenden Reaktionen aufeinander, ihre Blicke.

Wenige, stets wiederkehrende Orte: das Café, in dem sie sich treffen, die Rezeption und der rote Flur des Hotels, das eisig blaue Hotelzimmer, Straße und Metrostation. Ein Kammerspiel für zwei Personen. Alles, was sonst im Allgemeinen zu einer Geschichte gehört, ist weggelassen. Wir erfahren nichts über ihr Leben, und auch sie wissen nichts voneinander, außer dass sie dieses Eine teilen, diese sich offenbar genau entsprechende sexuelle Perversion, die strikt im Dunkeln bleibt. Es kommt nie heraus, was sie eigentlich miteinander veranstalten, darüber verweigern beide entschieden jede Auskunft – nicht aus Scham oder Schuldgefühlen, erklären sie, sondern weil darüber nicht zu sprechen ist. Immer wieder wird uns die Hotelzimmertür vor der Nase zugemacht. „Es war gut und auch ein bisschen enttäuschend“, sagt er vom ersten Mal; und sie: „Es war sehr, sehr, sehr gut.“

Dass wir im Film nur das Vorher und Nachher dieser unaussprechlichen Praktik verfolgen können, ist mehr als ein Trick, um unsere eigenen Fantasien in Gang zu setzen. Diese Aussparung regt die neugierige Schaulust (oder auch die nervöse Scheu) unseres erwartungsvollen (oder ängstlichen) Blicks so an, dass er gar nicht anders kann, als sich begierig an die gezeigten, ganz alltäglichen, harmlosen Szenen zwischen den beiden zu heften. So verschiebt sich die gespannte Erwartung vom Pornografischen auf die Beziehung überhaupt.

Und da ist nun die eigentliche Überschreitung zu beobachten, die dieser Film zeigt. Und sie besteht gerade nicht in der vorab getroffenen Vereinbarung zur sexuellen Ausschweifung, sondern in der Tatsache, dass die beiden Namenlosen miteinander zu sprechen anfangen. Sie redet bei Begrüßung und Abschied immer viel und schnell, er ist eher einsilbig, höflich, wirkt fast unbeholfen, ein wenig eingeschüchtert, aber er ist es, der nach dem zweiten Rendezvous den Vorschlag macht, sich in einem Restaurant noch etwas zu unterhalten.

Sex im Paradies

Damit setzt das „andere“ zwischen ihnen ein, zunächst ein entspanntes Zusammensein von Mann und Frau ohne Notwendigkeit von Verführung, ohne Machtkampf – sie brauchen einander ja nichts mehr zu beweisen, das Sexuelle zwischen ihnen ist klar definiert und spielt sich auf anderer Ebene ab. Im Film können wir sie bei diesen vergnüglichen Unterhaltungen „danach“ nur sehen, erfahren nicht, worüber sie reden, außer dass es dabei in stillschweigender Übereinkunft nicht um ihre Lebensumstände geht – und gewiss auch nicht um ihre Pornobeziehung, die keines Sprechens bedarf. Sie plaudern offenbar einfach über Gott und die Welt, ganz harmlos und „normal“, und es ist, sagt sie, als hätten sie sich schon immer gekannt.

Ein fast paradiesischer Zustand eines Paares, das sich vollkommen zu verstehen scheint, weil es, als wäre das möglich, sein sexuelles Einvernehmen von der Ebene des Sprechens getrennt hält und somit nichts voneinander zu fordern oder zu wissen braucht. Für uns Zuschauer aber wirken sie in ihrer aufeinander konzentrierten Entrücktheit nicht so ungewöhnlich, sondern schlicht wie glücklich Verliebte, die noch nicht gemerkt haben, dass sie längst in diesem „normalen“ Ausnahmezustand sind.

Und dann – kein Zufall, dass wir hier zum einzigen Mal ihre Plauderei mithören – erzählt sie ihm eine amüsante ethnologische Variante „des ersten Mals“ von Adam und Eva und schlägt ihm bald darauf vor, einmal „normal“ miteinander zu schlafen.

Dieser erste „normale“ Beischlaf, dem wir nun in dem blauen Hotelzimmer beiwohnen, ist sehr dezent, nachgerade keusch gefilmt und wirkt dabei ungemein wirklichkeitsnah, nämlich so rührend komisch, lächerlich und ein bisschen peinlich, wie solche Veranstaltungen eben für fremde Augen sind. Ein Mann und eine Frau, die sich in ihrem Begehren zu begegnen suchen, ein Menschenpaar nach dem Sündenfall, wo nichts mehr ganz natürlich von alleine geht, nichts mehr zwischen ihnen selbstverständlich ist. Nun müssen sie, die sich so vertraut zu sein glaubten, einander im biblischen Sinne „erkennen“ (er benutzt scherzhaft das Wort). Sie reden und fragen und verunsichern einander. Ganz geschlechtsspezifisch sind sie besorgt darum, wie sie beim anderen ankommen. Plötzlich schämen sie sich ihrer Lust, ja, entschuldigen sich dafür. Wie zwei im Bett herumtobende Kinder sind sie beim Höhepunkt völlig unter dem Leintuch versteckt. Als es darunter still wird, könnte es auch ein Totenlaken sein.

Wie es dann mit ihnen weitergeht, das ist so folgerichtig und so absurd, wie Liebesgeschichten eben sind, mit allen unausweichlichen kleinen Missverständnissen und Kränkungen, der Furcht, sich etwas zu vergeben, der unweigerlich einsetzenden Angst, einander zu verlieren. Es ist vorbei mit der Sicherheit und Eingegrenztheit ihrer „pornografischen Beziehung“, die sich im Nachhinein als unwiederbringlicher Stand der Unschuld, als kindliches Doktorspiel erweist und doch nur die modern aufgeklärte Variante eines Vorspiels zur Liebe war. Die Gefühle sind das eigentlich riskante Abenteuer. Darauf hat ihr gewagter „pornografischer“ Sex sie nicht vorbereitet, darin sind sie so gehemmt und angstvoll wie jedermann, der sich verliebt.

„Zu spät, Sie gefallen mir schon“, spricht sie das ganz zu Beginn schon unwissentlich aus, als er sie fragt, ob sie „es“ auch mit ihm tun würde, wenn seine Erscheinung sie enttäuscht hätte. Das Stückchen Perversion, um dessentwillen sie sich begegnet sind, ist nicht mehr von der Person ablösbar, gerät immer mehr in den Hintergrund, als die Verliebtheit, die ja den anderen „ganz“ will, sie erfasst. Es ist, weil die beiden nicht wirklich pervers sind, nur eine sexuelle Vor-Liebe gewesen, bis sie sich dann zu „erkennen“ suchen und ihre Blößen zeigen müssen. Bis die Angst wegen der eigenen Unvollkommenheit sie packt und so jeder im Blick des anderen die eigene bange Frage widergespiegelt liest.

Freude in der Wanne

Dabei ist die glücklichste Szene des Films, wie sie einander in der Badewanne von ihren Phobien und Macken erzählen. In diesem Moment sind sie beide ganz naiv der Erkenntnis über die Liebe nah, die in der Formulierung des französischen Psychoanalytikers Lacan heißt: zu geben, was man nicht hat. Die Frau ist sich dessen bewusster als der Mann, und sie ist tapferer als er, den ihre Behauptung, ihn mit allen seinen ihr noch unbekannten Schwächen zu wollen, zutiefst verunsichert. Einmal sehen wir sie in einem Obstgeschäft ein paar Früchte essen (es ist kein Apfel), aber sie bleibt dabei allein.

Zum Schluss antwortet sie auf das nochmalige Insistieren des Interviewers, was genau sie denn getrieben hätten: „Das ist doch ganz gleichgültig, auch wenn andere das nicht verstehen, ja abstoßend finden: Es war ein Liebesakt, ein Akt der Liebe.“ So raffiniert durchkonstruiert und erbarmungslos konsequent dieser Film das alte Phänomen wie in einer Versuchsanordnung ablaufen lässt, seine Erklärung der Liebe ist doch eine Liebeserklärung – an Nathalie Baye und Sergi Lopez, in die der Zuschauer sich einfach mitverlieben muss – und an das riskante, komische, todernste Unterfangen der Liebe überhaupt.

„Eine pornografische Beziehung“. Regie: Frédéric Fonteyne. Mit Nathalie Baye, Sergi Lopez u. a. Frankreich 1999, 81 Min.

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