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Ein Kleid ist keine Uniform

Am 9. April 1940 besetzten deutsche Truppen Norwegen. Sie blieben fünf Jahre, bis zur Kapitulation. Der norwegische Widerstand bestand aus vielfältigem zivilem Protest, häufig organisiert von Frauen. In bewaffnete Partisanengruppen gingen nur wenige Frauen. Eine von ihnen ist Sigrid Baalsrud

von CLAUDIA LENZ

Wenn Sigrid Baalsrud norwegischen Schulklassen von Krieg, deutscher Besatzung und ihren Erfahrungen im Widerstand berichtet, nimmt sie ihr Gewehr immer mit. Die zierliche Frau von Ende Siebzig schultert noch heute routiniert die Waffe. Es ist gut, den jungen Leuten zu zeigen, dass nicht nur Männer am bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Besatzung beteiligt waren.

Sigrid Baalsrud war eine von sehr wenigen Frauen, die sich gegen Ende des Krieges in einer der Partisanengruppen in den unzugänglichen Berg- und Fjordlandschaften Norwegens versteckten. Dort hielten sie sich für den Fall einer alliierten Befreiung Norwegens in Bereitschaft. Zum Einsatz der Partisanen kam es nicht mehr, denn die Befreiung erfolgte mit der bedingungslosen Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschen Reichs am 8. Mai 1945.

Den deutschen Überfall auf Norwegen am 9. April 1940 erlebte Sigrid Baalsrud neunzehnjährig in Bergen, an der Westküste Norwegens. Sie stand damals kurz vor dem Abitur. „Ich war ja sehr jung und hatte keine Erfahrung. Ich habe nur geglaubt, wir müssen uns verteidigen, die Deutschen müssen raus.“ Allerdings war es nicht so einfach, in die sich bildenden Widerstandsgruppen hineinzukommen. Zwar wusste sie, dass ihr Bruder und einige ihrer Freunde in einer illegalen Gruppe engagiert waren, doch gesprochen wurde darüber nicht. Ihr Bruder wollte die Familie nicht in Gefahr bringen. Manche ihrer Bekannten wurden verhaftet, gefoltert und in Konzentrationslager deportiert. Einige von ihnen hat sie nicht wieder gesehen. Sigrid Baalsrud litt unter ihrer Untätigkeit. „Es war keine Frage, was, sondern nur ob ich etwas tun konnte.“

Die Situation änderte sich, als sie im Distrikt Sogn eine Stelle als Verwaltungsangestellte antrat. Dort war auch ihr Bruder im Auftrag der von England aus operierenden norwegischen Armeeführung tätig. Getarnt als Elektriker, sollte er Unterkünfte für Agenten und untergetauchte Widerstandskämpfer organisieren. Nun erhielt Sigrid die Gelegenheit, die Aktivitäten des „Milorg“, der militärischen Organisation des Widerstandes, zu unterstützen. Eingeweiht wurde sie nach wie vor so wenig wie möglich, weil die Kenntnis von Namen und Informationen immer eine Gefahr darstellte. Einige Male brachte sie als Kurierin Waffen für die Milorg in Verstecke. Angst hatte sie dabei nicht: „Keiner hat geglaubt, dass ich eine Pistole habe.“

Ihr „harmloses“ Aussehen empfand sie als gute Tarnung. Hier war es ein Vorteil, Frau zu sein. Anfang 1945 wurde Sigrid aufgefordert, unterzutauchen. Jemand aus ihrer Umgebung war verhaftet worden und hatte im Verhör den Namen ihres Bruders genannt. Auch für sie wurde die Situation gefährlich. Sie machte sich mit ihrer wenig militärischen Ausrüstung – eine Skihose, ein dünner Schlafsack, ein Rucksack – allein auf den Weg. Eine Nacht lief sie auf Skiern durch die verschneite Landschaft, bis sie eine verabredete Zwischenstation erreichte. Von dort wurde sie zu dem Lager der Milorg gebracht. Eine Taschenlampe konnte sie auf ihrem nächtlichen Weg nicht benutzen, das wäre zu gefährlich gewesen. „Es war mitten im Februar und ganz dunkel, es waren Sterne da, aber kein Mond. Ich habe die ganze Zeit gesungen – so leise wie möglich.“

Drei Monate hielt sie sich mit den „Jungs“ in den Bergen auf. Immer auf der Flucht vor der deutschen Wehrmacht, die sich schon auf dem Rückzug befand. Die Milorg-Führung verfolgte die Strategie, eine Untergrundarmee aufzubauen, aber direkte militärische Konfrontationen zu vermeiden. Kampfhandlungen wurden nur zur Selbstverteidigung gebilligt. Diese Strategie war nicht unumstritten, aber das Kräfteverhältnis sprach dafür: In dem von zwei Millionen Menschen bewohnten Land waren bis zu 400.000 deutsche Soldaten stationiert.

Dass Frauen zu den Partisanen gingen, war nicht üblich. Das hatte mit den exklusiv männlichen Informations- und Organisationsstrukturen der Milorg zu tun, aber auch gesellschaftliche Gründe. „Frauen waren damals nicht wie heute. Sie wurden zum Nähen erzogen und dazu, Hausfrau zu sein. Oder Sekretärin.“ Auch die Geschlechterrollen im organisierten Widerstand orientierten sich überwiegend an der traditionellen Aufgabenteilung.

Es gab noch einen anderen, den breiten zivilen Widerstand der Bevölkerung. In den ersten Jahren war der Widerstand gegen die deutsche Besatzung fast ausschließlich ziviler Art: Boykott und Verweigerung gegen die Versuche der Besatzungsmacht, Norwegen zu nazifizieren, fanden ihren Ausdruck in zum Teil massenhaften Protestaktionen. So organisierten zwei Lehrerinnen eine spektakuläre Briefprotestaktion gegen die Nazifizierung der Schulen. Es gab diverse illegale Zeitungen und Radiostationen, darüber hinaus existierten eine Menge unkontrollierbarer „Codes“, mit denen die Bevölkerung ihrer Ablehnung gegenüber den Besatzern Ausdruck verlieh.

Die patriotische „norwegische“ Haltung wurde der Vereinnahmung durch die Besatzer und die norwegischen Nationalsozialisten, die „Quisslinger“, entgegengesetzt. An all den „niedrigschwelligen“, aber sehr wirksamen Widerstandsformen waren Frauen maßgeblich beteiligt. Gerade weil sie im Ausnahmezustand des Krieges für die Aufrechterhaltung der Alltagsorganisation zuständig waren, transportierten sie auch die alltäglichen Widerstandszeichen. Die Besatzungsbehörden reagierten darauf mit grotesken Verordnungen. So war etwa zeitweilig das Tragen roter Pudelmützen verboten. Oder das Stehen in Straßenbahnen, wenn Sitzplätze frei waren. Die OsloerInnen standen immer demonstrativ auf, wenn ein Wehrmachtsangehöriger sich in einer Straßenbahn auf einem Sitzplatz niederließ.

Im organisierten Widerstand waren unter anderem viele Kuriertätigkeiten „Frauensache“. Nachrichten, Lebensmittel für Untergetauchte und Waffen wurden von „unschuldig“ wirkenden Frauen an deutschen Soldaten vorbei zu Verstecken und Treffpunkten transportiert. Es wird berichtet, dass deutsche Soldaten jungen Norwegerinnen zuweilen galant beim Tragen ihres schweren Gepäcks behilflich waren. Trotzdem gingen solche Bilder nicht in dem Maße in die kollektive Erinnerung ein wie diejenigen von den „guttern i skauen“ („Jungs in den Wäldern“).

Sigrid Baalsrud hat das Gefühl, dass ihr erst die drei Monate bei den Partisanen die Gelegenheit gaben, „etwas tun zu können“. In der Gruppe wurde sie sofort akzeptiert, sie lernte Schießen und bekam eine Waffe. Im Gegensatz zu den Männern erhielt sie jedoch nie eine Uniform. Erst später hat sie sich gefragt, warum das so war. „Ich war ja Soldat. Warum hatte ich keine Uniform?“ Es gibt ein Foto, nach der Befreiung aufgenommen, das zeigt Sigrid mit Gewehr und gemustertem Sommerkleid zwischen lauter uniformierten Männern.

Im Krieg hatte sie sich als Soldatin unter Soldaten gefühlt und war bereit zu kämpfen. „Ich habe mir gedacht, entweder musst du dich verteidigen, oder du bist kein Mensch mehr.“ Nach der Befreiung löste sich die Gruppe auf, es begann der Prozess der „Normalisierung“.

Zwar erhielt Sigrid Baalsrud vom Anführer ihrer Gruppe im Sommer 1945 eine schriftliche Bestätigung für die Zugehörigkeit zur Partisanengruppe und damit die Zulassung zu einem Jurastudium. In seinen später veröffentlichten Darstellungen der Widerstandsgruppe wurde sie jedoch mit keiner Silbe erwähnt. Der Vetaranin versetzte diese Erfahrung „einen Stich“, aber sie fand ja selbst, dass sie „nichts Besonderes“ gemacht habe, keine Heldin gewesen sei, deren Geschichte unbedingt erzählt werden müsste. Bei der Parade der Milorg-Einheiten vor König Haakon IV. im Juni 1945 war Sigrid nicht dabei. Niemand hat es ihr verboten, aber da sie keine Uniform besaß, hätte sie sich unpassend gefühlt, sagt sie.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten hat sie nicht mehr über die Erfahrungen dieser Monate geredet. Im Privaten gab es ein unausgesprochenes Schweigegebot. „Es gab so viele, die nicht Widerstand geleistet hatten, und sie mochten nichts davon hören, dass andere etwas getan hatten.“ Dabei war der Widerstand im Norwegen der Nachkriegszeit offiziell ein zentraler erinnerungspolitischer Gegenstand. Wer als Veteran mit einem Orden dekoriert war, besaß öffentliche Autorität.

Sigrid Baalsrud begann über ihre Erfahrungen erst zu sprechen, als ein Journalist sie nach ihrer Geschichte fragte. Sie hat eine für Frauen ihrer Generation ungewöhnliche Karriere gemacht. Nach dem Studium in der Männerdomäne Jura durchlief sie eine höhere Beamtenlaufbahn an der Universität. Heute glaubt sie, dass ihre Erfahrungen in der Milorg zu ihrem Selbstbewusstsein beigetragen haben. Ihr Gewehr hat Sigrid aufbewahrt; sie zeigt es lächelnd und mit Stolz. Zu den Heldenmythen bleibt Sigrid auf Distanz. Aber sie empfindet es als Glück, bei der Milorg gewesen zu sein: „Ich war imstande, etwas für mein Land zu tun.“

CLAUDIA LENZ, 31, ist Doktorandin der Politikwissenschaft und Mitarbeiterin des Forschungsprojekts „Geschlechtergeschichte der Politik“ an der Uni Hamburg.

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