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Ungleichgewicht im Gekröse

■ Kinetose-Kranke sind auf der Osterwiese am grünlichen Teint leicht zu erkennen. Doch es gibt Rat und Abhilfe: Fahren, fahren, fahren und immer in die Ferne schauen

„Na, Leute, wollt Ihr noch mal? Das macht Spaß, da kommt Freude auf – jetzt geht es rrrrund!“ Andreas arbeitet als Quasselstrippe vom Dienst auf der Osterwiese – beim „Breakdancer“. Aber in Wahrheit hat er keine Ahnung, wovon er spricht: „Ich bin da noch nie mitgefahren, weil ich das nicht abkann.“ Dabei macht er die Arbeit und die Quasselei eigentlich schon immer – seit er „in die Windeln geschissen hat“, um genau zu sein.

Ich kann ihn gut verstehen und würde mich freiwillig auch nicht in eine der Gondeln setzen, die sich im Rasetempo in alle Richtungen und um alle Achsen drehen, bis sich der Magen einmal um die Bauchspeicheldrüse gewickelt hat. Mir verdicken sich bereits die Magensäfte, wenn ich mal extrem mutig bin und eine Runde Kinderkarussell drehe.

Breakdancer-Andreas und ich sind nur zwei Beispiele aus einer statistisch bislang nie erfassten Menge BremerInnen, die nur mit Scheuklappen über Osterwiesen und Freimärkte laufen können. Nicht, weil wir sonst eimerweise Lose kauften und anschließend drei Dutzend mit farbenfroher Chemiefaser bezogene Styropormonster sowie eine Batterie Stereoanlagen-Imitate in Tigeroptik entsorgen müssten. Nein, die Scheuklappen verhindern, dass uns schummrig wird, wenn wir den anderen nur dabei zusehen, wie sie im „Top Spin“ ziemlich dumm aus der Wäsche gucken, während sie trocken geschleudert werden.

Dass BeobachterInnen wie ich jahrelang geglaubt haben, letztlich wäre der Gleichgewichtssinn unerschütterbarer Top-Spinner gestört, weil ihr Körper anscheinend nicht unwirsch darauf reagiert, wenn er kopfüber hängt oder schneller im Kreis gedreht wird, als Menschen wie ich „Duselwurm“ sagen können, muss ich jetzt als Fehleinschätzung zugeben. Mit denen ist alles in Ordnung. In Behandlung gehören dagegen Andreas, ich und all die anderen, denen das zweifelhafte Vergnügen auf immer verwehrt sein wird.

Unser Leiden heißt „Kinetose“. Das bedeutet, dass unser Gleichgewichtssinn aus dem Lot ist. Dabei werde das für das Gleichgewicht zuständige Innenohr gereizt, erklärt der Bremer Flugmediziner Dr. Walter Vorderstraße. Sein Kollege, Dr. Matthias von Mülmann vom flugmedizinischen Dienst der Lufthansa in Frankfurt, bringt das Phänomen auf den Punkt: „Es gibt Leute, die kotzen in Bahnen, die kotzen in Autos und Flugzeugen, wobei man wohl alle zum Kotzen kriegen würde, wenn man sie lange genug in Karussells fahren ließe.“

Kotzen? Bei der Zwirbelmaschine „Mr. Howey“ rülpst Manfred Howey täglich dummes Zeug ins Mikrophon und verbittet sich jenes Wort, das Dr. Mülmann so locker von den Lippen geht. „Bei uns übergeben sich nur schwangere Frauen, weil die alles durcheinander gefressen haben – wie schwangere Frauen das immer so machen“, verblüfft der Glatzkopf mit seiner Sachkenntniss über das andere Geschlecht.

Stefan, beim „Commander“ Herr über Bügel und Chip, ist ein Exemplar der Gattung „junger Männer zum Mitreisen“. Vielleicht liegt es an der 80er Jahre-Discobemalung im Hintergrund, dass ich ihn im Nachhinein in eine Stonewashed-Jeans mit Lederstreifen und Neonschnürsenkel stecke. Vielleicht hat er die auch wirklich getragen. Unabdingbare Einstellungs-Voraussetzung für seinen Berufsstand ist aber nicht nur die 80er Jahre-Kompatibilität, sondern auch, dass er derart auf der Plattform balancieren kann, dass zwölfjährige Mädchen auf Plateau-Buffaloes und mit kajalverschmiertem Gesicht auf ihn abfahren. Anders als Mr. Howey redet Stefan unbefangen Klartext über das Übel mit dem Übel.

„Im Schnitt kommt das fünf Mal am Tag vor. Wenn die Leute Fischbrötchen essen, holen wir die halt wieder raus“, erklärt er die pflegedienstlichen Seiten seines Jobs. Mit einem 20 Meter langen Schlauch spült er regelmäßig Essensreste auf die Bürgerweide.

Andreas, Stefan und Mr. Howey legen großen Wert darauf, dass nicht ihr Gefährt den Leuten den Magen umdreht, sondern der fettige Fraß und das schale Bier. Wahrscheinlich haben sie sogar Recht. Denn Menschen mit handfesten Kinetosen wissen, wie sie ihr Fischbrötchen bei sich behalten. Sie bleiben auf dem Boden. Sollten sie doch einmal unvernünftig werden, suchen sie sich einen festen Punkt zur Orientierung. „Piloten machen das auch, wenn das Flugzeug schlingert“, sagt Dr. Vorderstraße, und Dr. Mülmann weiß sogar, wie kinetösen PilotInnen der Schwindel ausgetrieben wird. Per systematischer Konditionierung nämlich: „Man setzt sie auf Schaukeln oder lässt sie auf Schwebebalken balancieren.“ Nur wer aufgibt oder abstürzt, würgt noch heute.

Eiken Bruhn

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