: Auf Gedeih und Verderb
Von Büchern, Sodomie und juvenilen Greisen
von GABRIELE GOETTLE
Der Antiquar hat eine extra schonende Verbindung ausgesucht, damit Frédéric keine Treppen steigen muss. Dafür aber ist dreimaliges Umsteigen unvermeidlich. Wir sitzen in der halb leeren U-Bahn, mir fällt ein, was eine Freundin mir unlängst erzählte. Sie lebt in London und konnte es gar nicht fassen, wie leer die Berliner U-Bahnen sind, im Vergleich zu den ständig überfüllten Londoner U-Bahnen. Auch die Anzahl der Bettler fand sie hier erstaunlich gering. Frédéric lehnt in seiner Ecke und hat die Augen auf ein gegenübersitzendes Liebespaar gerichtet. Beide sind nicht mehr ganz jung, nicht mehr ganz nüchtern. Sie ist, mit irgendwie seligem Lächeln und geschlossenen Augen, an ihn gesunken. Ihr Kopf ruht fast auf seinem Magen. Er sitzt mit weit gespreizten Beinen und deutlichem Besitzerstolz da, streichelt mit der Rechten unbeholfen ihren Kopf, mit der Linken hält er ihre Hand. Frédéric sagt beim Aussteigen mit angewidertem Gesichtsausdruck: „Hast du das Liebespaar eben gesehen? Grauenvoll! Jetzt weißt du, warum ich die Frauen hasse.“ Der Antiquar ruft: „Ein Liebespaar, ihr habt ein Liebespaar gesehen? Wo! Wo!??“
In den Anlagen blühen die Krokusse und Forsythien, es ist aber für die Jahreszeit entschieden zu kalt. Frédéric bleibt stehen, um einen Moment auszuruhen. Er zündet sich ein Zigarillo an, der Antiquar schließt seinen Anorak und sagt: „Weißte übrigens, hast du das mitgekriegt, dass Obdachlose das Hotel Kempinski besetzt haben? Sie sind rein mit einem Transparent: ‚Hier sind noch Betten frei!‘ Und in der Halle haben sie einen Joint geraucht, dann kam die Polizei und ist eingeschritten. Das war eine Protestaktion, weil ab 31. März viele Notübernachtungen vom Senat geschlossen worden sind; laut Kalender ist ja der Winter vorbei. Na, ob die Kempinskibesetzung allerdings viel genutzt hat, nach 15 Minuten waren alle wieder draußen auf der Straße.“ Frédéric bläst den Rauch durch die Nase und sagt mit aufkeimendem Fremdenlegionärsblick: „Also, so was müsste ganz anders angefasst werden ...“ und schweigt.
Froh, in der beheizten Wärmestube angekommen zu sein, suchen wir uns einen Platz. Der Antiquar beschließt: „Setzen wir uns doch zu Hundeklaus, da ist es lustig.“ Unter dem Tisch hervor schießt ein walzenförmiger niedriger Mischlingshund, in Begleitung eines zarten, sehr jungen Hundes. „Lieschen, Platz!“, ruft Klaus und schiebt die Walze mit der Krücke unter den Tisch zurück. „Die ist jetzt immer so eifersüchtig, wegen dem Kleinen“, erklärt er und trinkt einen Schluck Kaffee. Klaus ist groß, kräftig und bärtig. Seit einem Unfall geht er an zwei Krücken. Der Antiquar ruft nach schwarzem Tee und bemerkt: „Schön, wenn man so einen kräftigen Bart hat, man könnte neidisch werden, benutzt du Haarwuchsmittel?“ „Nein“, sagt Klaus geschmeichelt, „man muss ihn immer nur stutzen, waschen, stutzen, waschen, stutzen. Dann wächst er gut nach. Seit 1979 habe ich diesen Bart.“ Der Antiquar zupft vorsichtig daran: „Sieht aus, wie der Bart von Karl Marx.“ Hundeklaus putzt seine Brille, haucht auf die Gläser, reibt mit dem Hemdenzipfel und sagt: „Vielleicht bin ich sein Urenkel ... sein Ururenkel. Ich habe sogar mal ein Buch von ihm gekauft damals, das war 1957, bei einem jüdischen Buchhändler. Der Mann hatte in Berlin überlebt, versteckt in einer Laube.“ Der Antiquar beugt sich vor: „Kenn ich den, wie hieß das Antiquariat?“ Klaus setzt die Brille auf und schüttelt bedauernd den Kopf: „Weiß ich nicht mehr, das war ein alter Mann, in einem kleinen Laden in Schöneberg; da beim Winterfeldtplatz. Das Buch jedenfalls, das habe ich sogar noch, das war rot und kostete 80 Pfennig, es ist das Kommunistische Manifest.“ „Das Manifest der Kommunistischen Partei, von Marx/Engels“, korrigiert der Antiquar, und Frédéric brummt: „Das kannst du wegschmeißen!“ Klaus sagt energisch: „Nein! Das hat seine Bedeutung, ich habe es nämlich damals deshalb gekauft, weil mein Taufpate Adolf Hitler war. Wir sind ... waren, eine enorm kinderreiche Familie gewesen, mit Mutterkreuz und allem Drum und Dran. Mich taufte man auf den Namen Adolf – drum nenne ich mich Klaus. Ein Bruder wurde Hermann genannt, ein anderer Josef, und Baldur, so ging es weiter. Ich bekam eine Prachtausgabe von „Mein Kampf“ als Säugling, mit echter Widmung ...“ Der Antiquar ruft entflammt: „Hast du das noch? Nee? Schade! Das könntest du zu Geld machen.“ Klaus winkt ab und fährt fort: „Wir bekamen sogar ein Siedlungshäuschen, mit Garten und Land. Das waren zusammen immerhin tausend Quadratmeter, wir konnten ein bisschen was anbauen und Hühner halten, Kaninchen, auch einen Hund. Daneben waren ja gleich die Rieselfelder, das war zwar manchmal mit dem Geruch nicht so, sonst war’s aber sehr schön. Wir hatten Salat, Möhren, Kohlrabi, Kartoffeln, Obst, sogar Erdbeeren. Später, in den Hungerjahren, hat uns das wahrscheinlich unser Leben gerettet, wir kamen gesund davon. Und heute sitze ich hier mit Krücken.“
Peter kommt an den Tisch und grüßt alle mit seinen immer noch weiß behandschuhten Händen. Er haucht mich vorsichtig an, verkündet stolz: „Keinerlei Fahne, immer noch trocken!“ Und verabschiedet sich, um am Nebentisch Platz zu nehmen. „Die Hände von dem werden komischerweise auch nicht besser“, bemerkt Frédéric, und Klaus klagt: „Bei mir ist es die Hüfte, die nicht besser wird. Sie schicken mir einfach meinen Krankenschein nicht vom Amt, sind angeblich so überlastet, dass schon mal was liegen bleibt. Aber eine Chipkarte kriege ich auch nicht, Sozialhilfeempfänger bekommen keine, kann mir jemand erklären, warum? Das ist doch eine glatte Benachteiligung. Ich bin ja nun wirklich schon benachteiligt genug!“ Der Antiquar kichert: „Das machen sie, damit die Armen nicht von einem Arzt zum anderen laufen. Es gibt keine echte freie Arztwahl in Wirklichkeit, wusstet ihr das?“ „Eben!“, ruft Klaus. Frédéric fragt: „Wie viel Prozent hast du denn eigentlich?“ „Hundert“, sagt Klaus, „haben sie mir damals gegeben. Ich war ja über zweieinhalb Jahre nur im Krankenhaus gewesen. In dieser Zeit haben sie meine Werkstatt aufgelöst – ich war ja Fernsehtechniker –, viel gesehen habe ich davon nicht, es haben sich andere Leute bereichert. Wenn man festliegt im Krankenhaus, fehlt der Überblick total. Aus der Innungskasse musste ich dann auch raus, und schon war ich ein Sozialfall; so schnell geht das! Und wisst ihr, wem ich das alles zu verdanken habe, einem Beamten! Der fuhr mich 1979 über den Haufen und hat mich hundert Meter mitgeschleift. Ein Medizinalrat oder Obermedizinalrat. Er hatte einen teuren Anwalt, also ging die Sache für ihn gut aus, außer Schmerzensgeld hatte er keine Umstände. Ich war berufsunfähig, aber so lange und rund um die Uhr mit meinen Schmerzen und gebrochenen Knochen beschäftigt, dass ich für Juristisches gar keine Zeit hatte. Ja, ich habe mich gewöhnen müssen und habe mich gewöhnt. Vielleicht zu gut! 1991 erst habe ich die Rente eingereicht, vom Krankenhaus aus, die haben mir dort gesagt, dass ich das schon viel eher hätte machen können. Aber nichts. Man hat mich eine Weile zu Hause gepflegt. Essen auf Rädern und alles, aber das war nichts für mich. Ich habe sie weggeschickt und gesagt, ich mache mir meinen Kram alleine. Da konnt ich, wie 79, kaum krauchen ...“
„Das kenne ich“, sagt Frédéric. Und der Antiquar meint: „Wenn dir das in Amerika passiert wäre, könntest du heute als reicher Mann leben. Sie haben jetzt sogar einer Raucherin, die an Lungenkrebs erkrankt war, ein Schmerzensgeld zugesprochen. Millionen von Dollar muss ihr ein Tabakkonzern zahlen!!!“ Frédéric hustet rasselnd und fragt: „Wo muss ich mich hinwenden bei Lungenkrebs?“ Der Antiquar grinst über so viel Selbstironie und sagt: „Gar nirgends, bei uns hier heißt es, du bist selber Schuld.“ Während Frédéric sich sein Zigarillo ansteckt und tief inhaliert, tritt Erwin hinter mich und zupft an meinem Ärmel: „Du, ich hab da mal ’ne Frage an dich ...“ Er zieht ein gelbes Handy aus der Innentasche seiner Jacke, zeigt es mir und sagt: „Das hab ich mir geholt, weil ich habe ja kein Telefon zu Hause, bei mir. Du, die tragen dauernd welche raus bei uns, tot, mausetot! Die Leute sterben einfach so in ihrer Wohnung, und keiner merkt was. Da habe ich es mit der Angst gekriegt ... Aber nu ist das aus, und ich muss es irgendwie mit Einheiten nachladen, aber wie? Muss ich da zum Mehringdamm, zur Post hin, was muss ich an Geld mitnehmen?“ Da weiß ich keinen Rat. Ich benutze keinHandy, weiß über das Technische wahrscheinlich weniger als er und rate ihm, den Pfarrer zu fragen. Klaus sagt: „Wenn er’s nur für die Not braucht, muss er den Chip gar nicht nachladen lassen, die Notruffunktion geht noch mindestens ein halbes Jahr, nur immer schön in den Akku tun.“ Erwin ist sichtlich erleichtert, steckt vorsichtig sein Handy ein und verabschiedet sich. Frédéric blickt ihm nach und sagt verwundert, ohne Herablassung in der Stimme: „Ja saget Sie mal, wer alles ein Handy hat ...“ Der Antiquar stößt empört hervor: „Die Minute kostet einszwanzig, und mehr, das Geld hat er doch gar nicht!“ „Na deswegen ja“, sagt Klaus, „der muss nicht neu einspeisen lassen. Das ist ja ein Verbrechen, wie sie den Leuten das Zeug aufschwatzen.“ Ein Punk mit dürrem Hund und offenen Schuhen schlurft am Tisch vorbei, und sofort schießen Lieschen und ihr Genosse mit empörtem Gebelle hervor, Klaus redet beschwichtigend auf das wütende Duo ein, und der Antiquar reicht blitzschnell jedem eine Scheibe Wurst zu, was allgemein nicht gern gesehen wird.
Klaus bugsiert die beiden wieder unter den Tisch und sagt: „Wenn ich das Lieschen nicht gehabt hätte, all die Jahre – sie ist jetzt über zehn –, dann weiß ich nicht, wie ich zurechtgekommen wäre, seelisch. Ich habe sie ja aus dem Tierheim, und ich war immer nur gut zu diesem Hund. Und da treffe ich doch eines Tages in der U-Bahn eine Frau, die kannte ich. Sie ist Kontrolleurin, aber nicht in der Bahn, sondern sie überprüft Hundebesitzer, die aus dem Tierheim einen Hund bekommen haben, ob der auch artgerecht gehalten wird. Ganz zufällig traf ich sie. Da hat sie sich runtergebückt und das Lieschen gestreichelt und gesagt: ‚Ist das nicht das Tier, das damals genäht werden musste? Die war doch mal ganz schlank, oder!?‘ Na ja, sagte ich, ich lass sie futtern, so viel sie nur will, nach allem, was sie hinter sich hat. Die kommt mir an keine Leine und nichts, und sie wird auch nicht eingesperrt zu Hause. Wo ich hingehe, da geht der Hund mit! Das fand sie alles gar nicht richtig, aber gesagt hat sie weiter nichts.“ Er beugt sich vor, greift unter den Tisch, tätschelt die Tiere. Der Antiquar sagt mit drängender Stimme: „Erzähl das doch mal, mit Lieschen!“ Klaus blickt ihn kurz durch seine Brille an und erzählt folgendes: „Das Lieschen ist vergewaltigt worden, von einem Polizisten, der daraufhin vom Dienst suspendiert wurde und sich deshalb das Leben genommen hat – also wegen der Suspendierung. Es ist wohl irgendwie Nachbarn aufgefallen, dass der Hund jämmerlich gebrüllt hat und dann verletzt war. Jedenfalls hat man ihm den Hund weggenommen, er kam ins Tierheim und musste genäht werden. Da war das Lieschen noch sehr klein. Der Polizist bekam jeden Monat sein gutes Gehalt und saß in seiner Wohnung. Er wohnte in dem großen Komplex, in der Schlangenbader Straße. In dem Haus, durch das die Stadtautobahn Richtung Krematorium Wilmersdorf mitten durch geht, und da hat er sich umgebracht. Erhängt, glaube ich.“ Der Antiquar sagt: „Eigentlich hätte der Mann ja bestraft werden müssen, Sodomie ist strafbar!“ Frédéric mutmaßt: „Das wurde ganz klar unterdrückt, weil er Polizist war. Man will ja nicht, dass es heißt, perverse Polizei!“ Klaus sagt: „Das ist ja jetzt alles schon ewig her, ich hab es damals auch nur unter der Hand erfahren, es wurde nichts weiter öffentlich gemacht. Aber solche Sachen kommen ja öfter vor, als man glaubt. Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis. Und deshalb bin ich zu Lieschen auch so gut. Ich gehe ja nur in Einrichtungen essen, wo ich die Hunde mitnehmen kann! Ich gehe in die Wollankstraße, zum Bundesplatz, und ich gehe ab und zu in die Wrangelstraße, zu Mutter Teresa, kennt ihr das?“ „Da gehn wir nicht hin“, sagt der Antiquar, „Schlange stehen, schnell essen und raus! Das ist nichts für uns, wir brauchen ein bisschen Ruhe und Unterhaltung.“ Klaus stimmt zu: „Hektisch ist es schon, aber man kann eben jeden Tag, bis auf Montag, da essen. Montags kaufen sie ein. Das sind ja Schwestern aus Indien, die leben hier und tun Gutes. Das ist schon irgendwie unverständlich, wo wir gegen die Inder im Luxus leben.“
Der Antiquar fordert mich auf, mit ihm den Büchertisch zu inspizieren, auf dem sich jeder kostenlos bedienen kann. Unterwegs treffe ich auf die zahnlose Mutter, die, wie durch ein unbegreifliches Wunder nicht mehr zahnlos ist. Den oberen Teil der Prothese hat sie im Mund. Beim Lächeln zeigen sich hübsche, weiß schimmernde und in der Form sehr gut zu ihrem Gesicht passende Zähne. Den unteren Teil holt sie aus ihrer Tasche und legt ihn mir vertrauensvoll in die Hand: „Det Scheißding passt nich, det drückt! Ick habe bereits ne wunde Stelle, ick werde mir det zu Hause mal mit der Nagelfeile glatt machen. Mal sehn, ob nu endlich meine Magenjeschwüre weggehen.“ Der Antiquar ruft: „Seht, da ist Ingeborg, die Tochter des berühmten Brezelmannes vom KaDeWe, sie hat Zähne, nach so vielen Jahren der Zahnlosigkeit, hat sie endlich wieder Zähne im Mund!“ Die ehemals zahnlose Mutter lächelt und zeigt stolz die obere Zahnreihe.
Rolf, ein bekennender Schwuler, ergreift den Antiquarsarm: „Geht ihr zu den Büchern? Denkt bitte daran, ich sammle die Angélique-Romane von Anne Golon. Wenn ihr einen findet, bitte gebt ihn mir.“ Er wirft seinen roten Schal theatralisch über die Schulter und eilt zu einem Freund, den er schon aus Kinderzeiten kennt, es ist Samuel, dessen Mutter im KZ Neuengamme umgebracht wurde. Er kommt, wie stets, sehr aufrecht, ernst und gemessenen Schrittes, mit seinem Rottweiler Arko an der Leine. Die meisten hier meiden ihn, weil sie ihn fürchten, es geht etwas Feindseliges von ihm aus. Er verkörpert eine hier recht ungewöhnliche Mischung aus Feindseligkeit, patriarchenhafter Würde, erotischer Anziehungskraft und Virilität. Man sieht ihm die Prügel, Entbehrungen und Schrecken seiner Kindheits- und Jugendjahre nicht mehr an, so wie es bei den meisten anderen hier der Fall ist. Rolf umarmt ihn stürmisch, blickt ihm wild in die Augen, doch Samuel bleibt kühl, distanziert und entzieht sich sacht dem Ansturm. Dabei fällt klirrend etwas zu Boden. Erwin, der gerade vorbeigeht, bückt sich blitzschnell und hebt es auf. „Was habe ich denn hier Schönes gefunden?“, ruft er und hält einen silbernen Ring mit großem blauem Stein hoch. Rolf springt zu ihm hin, küsst den Verblüfften auf die Wange und steckt sich seinen Ring an den Finger. „Und die andre Backe?“, empört sich Erwin mit Zornesfalte zwischen den Brauen, „Jesus sagt, man soll auch die andere Backe hinhalten!“ Rolf küsst ihn flüchtig auch auf die andere und eilt davon. Derselbe Rolf, der durch divenhafte Launenhaftigkeit, Oberflächlichkeit und Anfälle von heller Wut auffällt, kann aber ebenso – weitgehend unbeachtet – nebenan im Kirchenraum sitzen und musizieren. Er spielt Flöte, und zwar vom Blatt. Der ganze Mann ist dann kaum wiederzuerkennen. Das Quirlige, Unstete und auch das andererseits Phlegmatische in seinem Verhalten weicht einer geradezu rührenden Selbstdisziplin, was keine Kleinigkeit ist für einen Menschen wie ihn. Er sitzt gesammelt und kompakt auf seiner Klavierbank, mit vollkommen geradem Rücken. Die Flöte hält er senkrecht nach unten. Man fühlt sich erinnert an gewisse Picassozeichnungen, auf denen Wesen zu sehen sind, die so dasitzen, so in Flöten hineinblasen und ein solches Faunsgesicht dazu machen. Die Füße hält er überkreuzt und seine Finger hüpfen auf und nieder. Fast nie verspielt er sich, allerhöchstens bläst er ab und zu einen Ton falsch an, sodass der unsauber herauskommt. Er korrigiert sich stets, und es dauert nur einen kurzen Moment, bis der Ton klar und rein hervorkommt. Er wird begleitet von einem Mann am Cembalo, der es sehr gut versteht, die winzigen Unterbrechungen mit einem fließenden Spiel zu verknüpfen. Durch den Kirchenraum hallt Barockmusik, man kann es kaum glauben. Währenddessen ist schräg vis à vis der Frisör tätig. Ein Kandidat nach dem anderen lässt sich die Haare schneiden. Auch einem älteren Mann mit langem Haar wird das Gewünschte abgeschnitten und sogar der Schädel kahl geschoren zu dieser Musik. Sein grauer Zopf fällt zu Boden zwischen lauter braune Locken.
Am Büchertisch treffe ich den Antiquar und andere Interessenten, auch K., ein bärenhaft tapsiger, freundlicher Engländer, blättert. Der Antiquar zeigt ihm ein Büchlein: „Interessierst du dich für LSD?“ K. fragt: „Timothy Leary oder so?“ „Nein, sagt der Antiquar, „Hoffmann!“. K. ist nicht sehr animiert. „Früher, da habe ich einiges besessen in dieser Richtung, auch Aldous Huxley, aber das ist mir alles gestohlen worden. Ich war arbeitslos und meine Unterkunft, die war so klein, dass ich viel in den Keller stellen musste. Auch Bücher, die ich verkaufen wollte. Ich hatte mir so ein kleines Lager angelegt, und dann sind sie allmählich immerzu verschwunden, so in Salamitaktik. Also da hat ein anderer das Geschäft gemacht, der Vermieter vielleicht. Und was glaubst du, wo ich sie nach und nach wiederfinde? Hier! Anderswo übrigens auch.“ Der Antiquar blickt zweifelnd auf die Bestände, vorwiegend Belletristik aus den 60er- und 70er-Jahren und sagt: „Die sehen doch alle gleich aus!“ K. kennt diesen Einwand offenbar schon und sagt erregt: „Nein, nein, ich erkenne sie genau wieder! Sogar in Bibliotheken habe ich schon welche wiederentdeckt. Ich stehe vor dem Regal und denke, komisch, dasselbe Buch hattest du doch auch, mit genau diesem Fleck da auf dem Rücken, und ich schlage das Buch auf und weiß ganz genau, da und da war eine Anmerkung, die ich ausradiert habe. Ich schau auf dieser Seite nach, schau ganz genau und tatsächlich, da ist die ausradierte Stelle. Das kann doch kein Zufall sein und auch kein Irrtum! Aber ich habe gelernt. Jetzt bin ich vorsichtig geworden, ich markiere alle meine Bücher an drei geheimen Stellen. Da gibt es dann keinen Zweifel mehr beim nächsten Mal. Es sind von mir nicht nur Bücher gestohlen worden, einmal gehe ich da zufällig bei einem Antiquitätengeschäft vorbei, seitlich in der Auslage sehe ich ein Bild stehen und erkenne es gleich wieder. Das war meins, wie kam das dahin? Leider ist das Geschäft immer geschlossen gewesen ...“ Ein Mann im Rollstuhl, der den Tisch nicht überblicken kann, fragt: „Ist was von Fallada vielleicht dabei?“ K. sagt aufgeregt: „Ja, da war was, warte“, er sucht und findet tatsächlich ein schmales Taschenbuch, die Biografie. Der Antiquar murmelt was von Alkoholexzessen, und der Mann im Rollstuhl ruft hoch erfreut aus: „Ich kann es nicht fassen, grade habe ich draußen zu meiner Bekannten gesagt, jetzt kenne ich alles von Fallada, nur seine Lebensgeschichte noch nicht. Was es für Zufälle gibt!“ K. lächelt fein und raunt: „Ich glaube, das ist auch meins! – Damals wollte ich noch Handel treiben, mit Büchern, Bildern ... mit Trödel, aber das ist gescheitert. Zum Glück. Ich habe was Besseres gefunden. Ich hatte mir damals von dieser ABM-Maßnahme so ein bisschen Geld zurückgelegt, und da traf ich D., ihr kennt ihn aus dem Seeling, in der City ist er auch, und D. hat mir den Tipp mit den Aktien gegeben. Erst war ich sehr skeptisch, ich wollte mein Geld ja nicht verlieren ...“ Der Antiquar, der in diesen Dingen ein ausgesprochen konservativer Mensch ist und letztlich den Strumpf für die sicherste Bank hält, legt die Stirn in Falten und sagt: „Wenn du da mal nur nicht Pech hast. Eines Tages muss die Börse ja zusammenbrechen, die Spatzen pfeifen es schon von allen Dächern!“ K. ist entrüstet: „Nicht in diesem und nicht im nächsten Jahr! Ich habe Telekom gezeichnet, und Infinion habe ich leider unlängst nicht bekommen, und da wurde auch gewarnt. Du glaubst gar nicht, was ich seither für einen Gewinn gemacht habe. Aber ich verkaufe noch nicht, noch. Mal sehen. So viel Geld hätte ich niemals mit Handel verdienen können. Aber man muss sich auskennen mit der Materie. Das hat mir der D. beigebracht, die ganzen Tricks. Also studiere ich im Internet die Sache. Zeit habe ich viel, aber keinen Computer – mein Geld liegt ja fest ... Also ins Internet, da komme ich zum Beispiel rein im PDS-Büro. Da studiere ich die Börsenkurse.“ Der Antiquar erleidet fast einen Lachkrampf. K. wirkt etwas verdutzt: „Ja wieso denn nicht? Ich muss mich auf dem Laufenden halten! In manchen Bibliotheken geht es übrigens auch. Der D. geht immer ins Rathaus, glaube ich. Er hat auch ein Aktiendepot. Übrigens Bank Austria, du bist doch aus Österreich“, sagt er plötzlich zu mir. Ich erkläre, dass Elisabeth Österreicherin ist. „Egal“, sagt er „sage ihr, das ist eine Bank, die ist sehr geschickt im Osteuropageschäft, da wird es demnächst noch einige interessante Papiere geben. Sehr gut ist auch ‚Semperit‘, das ist so ein Tipp von mir.“ Ich bedanke mich etwas konsterniert. Hier erwartet man nicht unbedingt Börsentipps zu bekommen. Während er weitere Empfehlungen gibt, das Stapelchen von Büchern scharf im Auge behält, das er sich beiseite gestellt hat, zieht er ständig nervös die Ärmel seines Unterhemdes über die Handgelenke, und bei jeder Geste rutschen sie zurück unter die Manschetten seines Hemdes.
Jemand streckt uns seine schmale, schlaffe Hand hin zum Gruß. Es ist Peter, ein weißhaariger Herr mit sensiblen Gesichtszügen, leiser Stimme und abwesendem Lächeln. Er sieht so aus, wie man sich insgeheim einen künstlerisch tätigen Menschen vorstellt. Wenn er mich trifft, fragt er jedesmal: „Hast du wieder mal was geschrieben? Das letzte habe ich ja gelesen, ja ... Schreibst du auch mal was über mich? Nur, was könnte ich erzählen, das ist alles so langweilig!“ Peter geht mit diesem abwesenden und zerstreuten Lächeln durch die Stadt; Tage, Wochen, Monate, Jahre. Er ist ein Phänomen. Trotz seiner – oder wegen seiner – unerschütterlichen Gleichmütigkeit ruft er in vielen Leuten hier rasch Aggressionen hervor. Eine gute Bekannte Peters schilderte ihn mir einmal so: „Der ist ein vollkommen anderer Mensch als wir alle. Er saß sein Leben lang nur zu Hause herum. Die Eltern waren was Besseres, Meteorologe war der Vater. Ich fragte ihn mal, wolltest du denn nie weg, hast du denn nie eine Freundin gehabt? Und er meinte, na wieso denn, man kann doch auch bei den Eltern bleiben bis zum Lebensende, was soll daran den grauenhaft sein? Der Vater ist 83 gestorben mit 87 Jahren – oder umgekehrt –, und die Mutter ist vor dem Vater gestorben. Sie hatte Multiple Sklerose. Irgendwie waren beide Eltern zu weich. Sie hatten diesen älter und älter werdenden Sohn im Haus, und haben sich daran gewöhnt. Der saß sozusagen mit fünfzig noch mit Stofftieren in seinem Kinderzimmer. Geige kann er auch spielen, aber er ist ja für alles zu schwach. Das ganze Weiche an Peter, da darf man sich nicht beirren lassen, das ist eigentlich seine größte Stärke. Sie wollten natürlich, dass was aus ihm wird, auch ein Naturwissenschaftler. Aber er war zu sensibel für alles. Das Abitur hat er abgebrochen, er war zu sensibel für eine Arbeit, für das normale Leben, das hat er alles abgebrochen. Und er hat es erreicht! Er tut ausschließlich das, was ihm gefällt, nichts sonst. Das Geld wird ihm zugeteilt, eine Frau macht bei ihm sauber, Essen geht er in den Einrichtungen. Seine Hauptbeschäftigung ist, zu Ausstellungseröffnungen zu gehen, zu Lesungen, Vorträgen und in die Bibliothek. Er hat keine Depressionen, ist immer heiter, er hat keine Probleme, keine Wünsche, kein Sexualleben. Er ist nicht unglücklich und nicht glücklich. Manchmal wirkt er so, als würde er von nichts etwas wissen. Man sieht ihn immerzu in der gleichen Stimmung, schon seit Jahren. Als Kind war er mit den Eltern in Spanien. Der Vater war unter Hitler dorthin versetzt, zum Meteorologischen Dienst Deutschland und Europa oder so ähnlich. Bollweber hat immer gesagt: Der Peter, das ist ein Killerbaby, der Vater hat 1937 für die Messerschmitts das Wetter geprüft, für die Legion Condor. Aber Peter sagte immer, er weiß nichts davon. Bollweber hat den Peter immer angegriffen, obwohl er ja mit bei ihm gewohnt hat in der Wohnung. Peter hatte ja auch diese Seite, dass er gutmütig ist und nicht nein sagen kann, wenn ihn jemand um was bittet. Aber er bringt es andererseits auch fertig, einer Frau, die vollkommen mit den Nerven runter ist, Eier anzubieten, die seit einem halben Jahr in seinem Kühlschrank sind. Er kann sich eben nichts selber machen, für ihn ist immer alles hergerichtet worden, das Essen, die Wäsche, das Zimmer. Er ist hilflos, und wenn nicht jemand sich wenigstens um den gröbsten Kram kümmert, dann weiß er nicht weiter. Damals hat er ja alle Leute in seine Wohnung reingelassen, das wurde allmählich schon zu viel. Wer kein Bett hatte, kein Geld, der hat sich an Peter gewandt. Bollweber hat bei ihm auch länger gewohnt und die ganzen Wände bemalt. Die Wohnung verkam, und mit einmal waren Kakerlaken da. Keine Ahnung, wo die herkamen. Sie vermehren sich ja in Windeseile. Es kam jemand vom Amt, die Wohnung wurde zwangsgeräumt, es kam ein Entseuchungskommando. Mit einen Schlag waren vier Personen obdachlos, ich auch. Der Peter bekam gleich wieder eine neue, kleinere Wohnung. Und nur einen Schlüssel! Alle Sachen wurden desinfiziert, damit keine Eier mitgeschleppt werden. Und andererseits ist der Peter einer, den sie bei den Vernissagen für den Künstler halten, bei den Lesungen für den Autor, im Konzert für den Dirigenten.“
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