: Anonyme Anarchisten
Am 1. Mai 2000 findet in Berlin wieder der große alljährliche Tobetag gegen das Schweinesystem statt. Aber wer ruft zur „Revolutionären Demonstration“ auf?
Für Deutschlands Junganarchisten fallen Ostern und Weihnachten auf einen Tag: den 1. Mai. Ihr Gott nennt sich „Revolution“; die Krippe steht in Kreuzberg; der Stern, der sie leitet, heißt „Demo“; ihr Erlöser „Kampf“ – oder mit vollem Namen „Straßenkampf“; und ihre Schrift ist das „Demoplakat“. Solch ein „Demoplakat“ verziert momentan Berlin. Es ruft auf zur Teilnahme am alljährlichen Berliner Tobetag: Die „Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“ wird in diesem Jahr zum „13. Mal in Folge“ stattfinden. Aber wer sind eigentlich die Aufrufer, wer zeichnet verantwortlich für den Kreuzberger Umzug unter dem tapferen Titel „International kämpfen gegen Ausbeutung und Unterdrückung!“?
Rund neunhundert „Personen, Gruppen, Organisationen und Gewerbetreibende“ haben ihren Namen auf einem Plakat verewigt – und nichts Weiteres ist auf dem Anschlag zu finden: keine Erläuterung oder Erklärung, wogegen oder wofür die Kampfkräfte „vom Oranienplatz aus“ ins Feld ziehen wollen. Die alphabetisch nach Vornamen sortierte Bleiwüste signalisiert blanke Masse und breite Unterstützung. Und die scheint enorm zu sein. Denn Zuspruch aus allen Bevölkerungsschichten, ja aus vielen Ländern der Welt, scheint den Nachwuchsanarchisten sicher. Aus „Brasilien“, „Polen“ oder „Ghana“, aus „Belgrad“, „Madrid“ oder „Porto (Portugal)“, aus „Philadelphia“ oder „Austin, Texas (USA)“, aus „Niedergösgen (Schweiz)“ und zuletzt von „Zoé R.“, einer „Schülerin“ aus „Oldham (England)“ kommen die solidarischen Grüße zum Fest. International geht’s zu – so international, dass auch der „Asylant Aziz A.“ und der „Asylant Ali B.“ teilnehmen dürfen. Aber muss es nicht „Asylsuchender“ oder „Migrant“ heißen? Hat das Wort „Asylant“ nicht einen arg pejorativen, also negativen Charakter? So dass man es gewöhnlich allenfalls im rechtsradikalen Milieu findet: „Asylant, Asylant, wir stellen dich an die Wand“?
So genau nehmen es die Verantwortlichen im Sinne des Presserechts mit derlei Dingen nicht. Lieber kümmern sie sich darum, möglichst viele Bevölkerungsschichten, vor allem aber Berufsgruppen, auftreten zu lassen: Neben Schülern und Studenten, neben Arbeitern und Arbeitslosen finden sich „Barkeeper“ und „Postboten“, ein „Geigenbauer“ und eine „Darstellerin“. Wen oder was „Anise S.“ allerdings darstellt, ist ungewiss. Auch welche Rolle „Carmen B.“ aus „Barcelona“ spielt, bleibt im vorrevolutionären Dunkel. Carmen B. ist „Chirurgin“. Wird sie dem mörderischen Schweinesystem am 1. Mai das kalte Herz des Kapitalismus herausoperieren? Wird der „Marketingmanager Budi J.“ die Demo als Event vermarkten? Kann der „Freiraumplaner Björn K.“ den Freiraum Kreuzberg professionell nutzen? Fragen über Fragen, die sich aus der Schall-und Rauch-Galerie nicht erschließen.
Eins allerdings ist, bis auf wenige Ausnahmen, allen Unterzeichnern gemein: Sie bleiben anonym. Muss der „Analyst Sasha aus Kopenhagen“ seine Analysen in Zukunft als politischer Gefangener von einer Zelle aus erstellen? Wird der „Flugzeugmechanikerin Belinda W. aus Lichtenberg“ von der Flugsicherheit der Schraubenschlüssel aus der Hand genommen, da einer revolutionären Kraft kein Jet mehr anvertraut werden kann? Wird dem „Zahnarzt Christoph S. aus Friedrichshain“ behördlich das Bohren verboten? Muss der „Koch Alkan E. aus Kreuzberg“ fürchten, vom Schweinebratensystem frittiert zu werden?
Der Mut dieser gefährdeten Umstürzler, öffentlich für die „Revolution“ einzustehen, ist bewundernswert. Schließlich ist das Risiko immens. Und jeder, der die Mai-Aufrührer nicht namentlich unterstützt, sollte vor ein autonomes Kiezschnellgericht gestellt werden und zur Strafe beim diesjährigen Tobetag zu Hause bleiben müssen: „Keine Befreiung ohne Namen“. Wer’s glaubt, wird selig. MICHAEL RINGEL
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