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Parole: Es geht voran

Die Wirtschaftsforscher sind sich einig: Die Aussichten sind so gut wie lange nicht mehr. Aber leider nicht für lange. Und leider nicht im Osten.

aus Berlin BEATE WILLMS

Die Frage kam mindestens einen Tag zu spät. Der Kurssturz an den Aktienmärkten? Nein, der spiele für die Entwicklung der Realwirtschaft weltweit keine Rolle, beschieden gestern die Konjunkturexperten der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute. Über einen echten Crash brauche man nun, nachdem sich die Börsen wieder zu erholen beginnen, nicht mehr zu spekulieren – und überhaupt: „Was an der Börse geschieht, kann man doch nicht eins zu eins übersetzen“, erklärte Eckhardt Wohlers vom Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA). So schnell lasse sich die Realwirtschaft nicht aus der Ruhe bringen. Entsprechend gebe es auch keinen Anlass, die Vorhersagen aus dem gemeinsamen Frühjahrsgutachten, das Wohlers zusammen mit seinen Kollegen vorstellte, noch einmal zu überdenken.

Die Prognosen sind auf den ersten Blick optimistisch wie lange nicht mehr: Um 2,8 Prozent wird die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr wachsen, im nächsten soll das Bruttoinlandsprodukt, also die Summe aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, um 2,7 Prozent zulegen. Das wäre gut doppelt so viel wie im vergangenen Jahr.

Große Auswirkungen auf die Beschäftigung hat das jedoch nicht. Zwar soll die Zahl der offiziell Arbeitslosen bundesweit von derzeit 4,1 Millionen bis 2001 auf 3,5 Millionen sinken. Zumindest ein Teil davon ist jedoch auf demografische Faktoren zurückzuführen: Mit zunehmendem Durchschnittsalter stehen immer weniger Frauen und Männer dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.

„Um tatsächlich eine Wende am Arbeitsmarkt herbeizuführen, sind auch einmalige oder zweimalige 2,8 Prozent Wachstum zu wenig“, erklärte Gustav Horn vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Dauerhaft mehr Arbeitsplätze gebe es erst, wenn sich eine Wachstumsrate von mindestens 2,5 Prozent über einen Zeitraum von drei oder vier Jahren halten lasse.

Und die innerdeutsche Spaltung wäre damit auch noch nicht überwunden. Denn aufgesplittet nach Ost- und Westdeutschland sehen die Zahlen noch einmal ganz anders aus. Während die Arbeitslosenquote im Westen bis 2001 auf 8,8 Prozent sinken soll, bleiben die Prognosen für den Osten bei 16,8 Prozent – bedingt durch das ebenfalls langsamere Wirtschaftswachstum. Hier hatten auch die Konjunkturforscher keine andere Lösung parat, als darauf zu setzen, dass der Aufschwung im Westen sich irgendwann doch stimulierend auf den Osten auswirkt. „Dazu muss er einfach groß genug sein“, so Wohlers.

Ob und wie das zu bewerkstelligen ist, darüber gingen die Meinungen der Experten auseinander. Das liegt vor allem daran, dass die wirtschaftliche Entwicklung derzeit von gegenläufigen Einflüssen geprägt wird: Auf der einen Seite wird der Aufschwung weiterhin vor allem vom Export getragen, weswegen die Weltwirtschaft – also die Konjunktur in den USA und den Schwellen- und Transformationsländern in Asien und Mittel- und Osteuropa – und der Außenwert des Euro eine entscheidende Rolle in der Frage spielen, ob sich der positive Trend fortsetzen kann.

Auf der anderen Seite hegen die Forscher – ähnlich wie Bundesregierung und Wirtschaft – die Überzeugung, dass die Finanzpolitik, und hier in erster Linie die Steuerreform, die Binnennachfrage ankurbeln und zumindest ab 2001 für mehr Investitionen und Konsum sorgen wird. Um einen optimalen Effekt zu erzielen, müsse die Bundesregierung das Konzept für die Steuerreform noch einmal überdenken, so die Wirtschaftsforscher. „Wir haben uns überlegt, wie systematische Mängel zu beheben sind, ohne dass gleich alles gekippt werden muss“, sagte HWWA-Experte Wohlers. Das Ergebnis: Das komplizierte Optionsmodell, nach dem die Inhaber von Personenunternehmen sich entscheiden können, ob sie wie bisher mit Einkommenssteuer belegt werden oder wie eine Kapitalgesellschaft besteuert werden wollen, soll vom Tisch. Der Spitzensteuersatz müsse nicht gesenkt, aber dafür auf Haushalte mit einem Einkommen von mehr als 120.000 Mark begrenzt werden. Allerdings könnten diese Veränderungen den Staat noch einmal bis zu 15 Milliarden Mark kosten. Wo die herkommen sollen, blieb gestern das Geheimnis der Konjunkturexperten.

Ob Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) dieser Empfehlung nun folgt oder nicht – die Experten des HWWA, des Münchner Ifo-Instituts, des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (IfW) und des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle prognostizieren, dass der Aufschwung so gefestigt ist, dass er sich fortsetzt. Wenn auch in abgeschwächter Form. Dann komme es nur darauf an, „die Weichen in der Wirtschaftspolitik“ richtig zu stellen. Hier fordern die Experten wie in den vergangenen Jahren „mehr Flexibilität in der Lohnpolitik“. Die Geldpolitik, die Sache der Europäischen Zentralbank (EZB) ist, sei für die Konjunktur hingegen eher unerheblich.

Das sehen DIW-Forscher Horn und Elke Schäfer-Jäckel vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) jedoch anders. Ihrer Einschätzung nach könnte eine weitere Anhebung der Leitzinsen, die seit dem vergangenen Herbst bereits um insgesamt einen Prozentpunkt erhöht wurden, die positiven Tendenzen zunichte machen. Denn höhere Zinsen bedeuten teurere Kredite und damit weniger Investitionen. „Wenn die EZB die Zügel nicht schon so weit angezogen hätte, hätten wir vermutlich jetzt schon ein höheres Wachstum“, erklärte Horn. Ob die bisherige Dynamik längerfristig reiche, bezweifle er. „Die Arbeitslosigkeit bekommen wir so nicht in den Griff.“

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