„Höhö“, lockt der Bock

„An meiner Ziege, da hab ich Freude, sie ist ein wunderschönes Tier. Haare hat sie wie von Seide, Hörner hat sie wie ein Stier.“ Und klug ist sie auch noch. Ein Loblied auf ein tolles Geschöpf

von HEIDE PLATEN

Papa flucht, das Kind brüllt, Mama ist beherzt und zieht am einen Ende der Wanderkarte. Am anderen zerrt die Ziege. Der Osterausflug ist gelaufen. Die Ziege lässt die Fetzen fallen, dreht sich graziös um, köttelt lässig mit aufgestelltem Schwanz und knabbert an den Heckenrosen.

Ziegen sind Nervensägen. Und Ziegen gehören zu den ältesten Nutztieren der Menschen. Archäologische Funde datieren ihre Zähmung bis auf mindestens achttausend Jahre vor unserer Zeitrechnung zurück. Über die Abstammung der Hausziegen, über Arten und Unterarten ihrer wilden Vorfahren streiten die Gelehrten bis heute. Als Urahnen werden vor allem die vorderasiatische Beozarziege mit ihren säbelförmig nach hinten gebogenen Hörnern und die Markhore oder Schraubenziegen, deren Gehörn sich schwungvoll aufwärtsdreht, angenommen. Ziegenbraten waren schon in der Vor- und Frühzeit ein Leckerbissen. Archäologen, die solche Knochenfunde früher achtlos zur Seite warfen, rätseln heute in Dissertationen, ob die Tiere noch gejagt oder schon gehütet wurden.

Ziegen wird allerlei nachgesagt, manches zu Recht. Ziegen sind Individualisten – zwar gesellig, aber mit lockerer Distanz zu ihresgleichen. Seit Menschengedenken haben sie sich die Weiden mit den wahrscheinlich zeitgleich domestizierten Schafen geteilt. Zoologisch sind sie eng verwandt. Sie gehören beide zur Gattungsgruppe der Böcke. Schafe aber sind blöd, Ziegen – verglichen mit anderen wiederkäuenden Hornträgern – bemerkenswert klug.

Ziegen flüchten nicht so schnell wie Schafe, die bei jedem nichtigen Anlass in Panik geraten und auseinanderstieben. Ziegen wahren gelassen den Sicherheitsabstand, sind aber auch notorisch neugierig und gehen der Gefahr auf den Grund. Im Notfall greifen sie an. Große Hunde sollten besser Reißaus nehmen. Das Feindbild der Ziege ist nun einmal noch immer der Wolf. Schafhirten wissen das und benutzen Ziegen in den Mittelmeerländern noch heute als Leittiere.

Sumerer, Akkader und Ägypter hielten und verehrten Ziegen. Ihr Gehörn war göttliches Attribut. Die Archäologin Elisabeth von der Osten-Sacken vertritt in ihrem Buch „Der Ziegen-Dämon“ die These, dass die Zackenkrone, die noch heute ein Symbol der Herrschaft ist, ihren Ursprung in der Vor- und Frühzeit hat, als Götter wie Könige mit dem den Ziegen geraubten Kopfputz geschmückt wurden. Mischwesen bevölkerten die Mythologie der Vor- und Frühzeit, göttliche Hirten, Naturgötter mit Ziegenköpfen oder -füßen.

Die Ägypter hielten in dynastischer Zeit mehr Ziegen als Schafe. Sie gerbten die Häute zu Wassersäcken, benutzten die Milch, die Galle und den Kot als Heilmittel. Zeitweilig fielen die Ziegen in Ungnade, wurden als Götterfeinde betrachtet, dann aber wieder rehabilitiert und dem Gott Amun geweiht. In der der griechischen Götterwelt waren Ziegenmilch und -fleisch Götterspeisen. Die Ziege wurde aber auch dem Hirtengott Pan und der Jagdgöttin Artemis zugeordnet. Weingott Bacchus reiste im Ziegenwagen. Satyrn und Faune tummelten sich bocksgeil und -füßig in den heiligen Hainen und in der belebten Natur. Griechische Gelehrte schrieben allerlei Merkwürdiges über das Tierreich. Eine der wunderlichsten Geschichten ist die, wie der Ziegenmelker zu seinem Namen kam: Diese seltene und scheue Nachtschwalbe mit ihrem breiten, kurzen Schnabel fliege nachts an die Euter der Ziege und trinke sie leer. Folge sei die Erblindung der ausgesaugten Ziegen.

In der nordischen Mythologie ziehen Ziegenböcke den Wagen des Donnergottes Thor. Im Götterhimmel Walhalla schenkt die Ziege Heidrun nicht Milch, sondern Met aus. Die israelitischen Monotheisten verdammten die sinnenfrohe Vielgötterei und mit ihr ihre Attribute. Die Ziegen wurden zu Sündenböcken und einmal im Jahr, beladen mit den Sünden des Volkes, in die Wüste gejagt.

Das Christentum erfindet Ende des 15. Jahrhunderts den Teufel, ein ziegenhaftes Mischwesen mit Zickenbart, Hufen, Hörnern und Schwanz, Widerpart Gottes, bösartig und bocksgeil, Inbegriff alles Bösen, Herr der Hölle, der Hexen und der Ketzer, die es mit Böcken treiben und auf Ziegen zum Hexensabbat reiten. Ziegen sind aber auch Märchentiere, manchmal schneeweiß mit goldenen Hörnern, manchmal rabenschwarz und zauberisch. Das berühmte „Tischlein deck dich“ von den Brüdern Grimm beginnt mit einer realistischen Szene. Die zickige Ziege frisst sich voll und meckert hinterher doch: „Wovon sollt ich satt sein? Ich sprang nur über Gräbelein und fand kein einzig Blättelein.“ Der empörte Bauer jagt die Hirten, seine drei Söhne, davon. Das Glück finden sie anderswo, die Ziege meckert weiter.

Die Ziege ist kapriziös. Das verbirgt sich in ihrem lateinischen Namen Capra. Der Agrarwissenschaftler und Ziegenhalter Ulrich Jaudas spricht aus Erfahrung: „Unerschöpflich ist der Einfallsreichtum der Ziegen an Dingen, die dem Ziegenhalter als dumme oder boshafte Streiche erscheinen.“ Eigensinnig seien sie und Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht zugänglich: „Ziegen gehen da häufig zum passiven Widerstand über, indem sie sich nicht mehr von der Stelle rühren und auch die Futteraufnahme verweigern.“

Überhaupt, das Futter. Ziegen sind widersprüchlich, gleichzeitig genügsam und wählerisch: „Es gibt tatsächlich kaum etwas Lästigeres als das ausdauernde und vorwurfsvolle Meckern einer Ziege vor gefülltem Futtertrog, der der Sinn nach irgendetwas anderem steht.“ Zum Beispiel eben nach einer Wanderkarte jenseits des Weidezauns.

Ziegen, ursprünglich in kargen Gebirgsgegenden zu Hause, müssen so sein. Wenn die Ernährungslage üppig ist, können sie wählen, in kargen Zeiten müssen sie alles untersuchen, ausprobieren, herausfinden, was sich verwerten lässt. Ziegen steckt die Gebirgsheimat auch noch nach Jahrtausenden in den Genen. Sie klettern mit Lust, überwinden spielend Zäune und Türen, schätzen den Überblick vom erhöhten Ausguck, manche Rassen klettern auf Bäume, um an die Blätter zu gelangen, die Lieblingsspeise aller Ziegen.

Wenn Ziegen meckern, dann ist das nicht einfach nur Meckern. Sie können es in mindestens drei Varianten: freudig zur Begrüßung, lockend, um das Kitz zu rufen, und weithin hörbar in der Brunst. Böcke fechten ihre Kämpfe um die Geißen mit dem Kopf aus. Sie steigen auf die Hinterbeine, ehe sie mit den Hörnern und der Stirn aneinanderkrachen. Der siegreiche Bock umwirbt die Geiß mit einem tiefen Brustton: „Höhö“. Die Leittiere, meist sind das ein Bock und eine Ziege gemeinsam, warnen die Herde mit einem prustenden Nasallaut; verletzte oder kranke Ziegen stöhnen.

Ziegen sind nützliche Tiere. Sie geben Milch, aus der sich Butter und Käse bereiten lassen, ihr Fleisch ist mager und gesund. Ihr Fell lässt sich zu feinstem Leder verarbeiten, langhaarige Ziegen liefern teuerste Wollsorten. Sie vermehren sich schnell und sind genügsam. In Notzeiten standen sie hoch im Kurs.

Auf einer Veranda sitzt 1949 ein Flüchtlingskind und weint. Seine beste Freundin ist geschlachtet worden. Wochenlang hatte das kleine Mädchen der Ziege des Nachbarn Brennesseln und Kräuter, saftige Blätter und junge Weidenruten gebracht. Dann hat die Mutterziege zwei Ziegenlämmchen geworfen, ein schwarzes und ein weißes. Das weiße, hat der Bauer gesagt, „das ist deines, du darfst mit ihm spielen“. Da gibt es Fotos, das Kind mit verrutschter Schleife im Haar, das Kitz auf dem Arm, das Zicklein hüpfend und spingend im Gras.

Die Bauersfamilie sitzt zum Ostersonntag zu Tisch und verspeist das Tier. Das kleine Mädchen ist zufällig vorbeigekommen. Es weint. „Nicht weinen“, sagt die Bäuerin mitleidig, „bald gibt es wieder junge Ziegen.“ Das Kind aber weint nicht, weil seine kleine Spielgefährtin tot ist und aufgegessen wird, sondern weil es Hunger hat, ihm das Wasser im Munde zusammenläuft, es aber von dem duftenden, dampfenden Braten kein noch so winziges Stück angeboten bekommt und genau weiß, dass es nicht betteln darf.

HEIDE PLATEN, 53, lebt in Frankfurt, ist taz-Korrespondentin für Hessen und Baden-Württemberg sowie Tierreporterin