Schwerelose Langeweile

„Phosphor“: Sven Lager schreibt über das Jungsein in der Großstadt – das Rumhängen, Abwarten undHoffen, dass endlich etwas passiert, was es wert wäre, dass man dafür aufsteht. Die Liebe kommt auch vor

Laue Sommerluft weht durch die Seiten. Ein bisschen Stillstand und Staubigkeit schwingen mit, trotzdem ist es ein angenehmes Klima. „Phosphor“ ist ein Stadtroman, ein Livebericht aus dem privaten Sommerloch. Die Stadt Berlin bildet den geografischen Rahmen, aber dabei bleibt es auch. Sven Lager gestattet ihr nicht, urbane Hektik und Reizüberflutung wie eine schwere Decke über das emotionale Geschehen zu werfen.

Die Geschichte beginnt mit einem Schuss auf die U-Bahn. Die Kugel trifft ins Leere, knapp vorbei am Protagonisten, der erschrocken den Sitzplatz wechselt. Er rückt neben sich, betrachtet sich von der Seite und flirtet mit dem Gedanken, es könnte sein Geist sein, den er da verdattert sitzen sieht. Man kennt diese Einstellung aus Filmen, derlei Szenen setzen die Handlung eines Action-Thrillers in Gang. Aber „Phosphor“ kommt nicht aus Hollywood, es spielt keine Rolle, wer den Schuss abfeuerte oder warum. Dennoch ist er der Auslöser für das Geschehen, und das spielt sich vor allem im Kopf des namenlosen Ich-Erzählers ab.

Der innere Monolog führt die Gedanken spazieren. Sie flanieren ziel-, aber nicht kopflos durch die Filmgeschichte, die städtische Umgebung, die persönliche Vergangenheit und Gegenwart – das Leben eben. Das findet man im Großen wie im Kleinen.

Ein Assoziationsstrom führt von der Magie der Mixkassette mit Nachmittags-Cola zur Frage, wie lange das Jetzt dauert: zwei Sekunden. Nicht gerade viel, um sich ausschließlich darauf zu fixieren. Es muss noch etwas anderes geben.

Erinnerung leuchtet im Gehirn grün wie Phosphor, gallertartig. Halb verdaute Reader’s Digest-Geschichten, die eher hungrig als satt machen, weil sie verrätseln, statt zu erklären, sind daran schuld, dass sich diese Vorstellung beim Erzähler eingegraben hat. Erinnerung ist der Kitt, der die Sinneseindrücke der Gegenwart zusammenhält und in ein sinnvolles Muster fügt.

„Phosphor“ ist auch ein Jugendroman beziehungsweise ein Roman über das Jungsein. Über das Rumhängen, Abwarten und Hoffen, dass endlich etwas passiert, was es wert wäre, dass man dafür aufsteht und losgeht. „Phosphor“ liest sich wie ein verkiffter, verquasselter Abend. Eine Art schwerelose Langeweile macht sich breit und schärft die Sinne für das Wesentliche, das im Nebensächlichen verborgen liegt. Aber es gibt keinen Jugendroman ohne Liebesgeschichte; der müsste erst noch erfunden werden.

Auch Lagers Held hat ein Herz. Er erinnert sich an Laura, die er verließ, ohne zu wissen, warum. Andererseits wusste er aber auch nicht, warum er es nicht tun sollte – und das ist schließlich Grund genug. An Laura denken ist besser als bei Laura sein. Als Theorie war sie gut, in der Praxis hat das nicht gereicht. In Fanny begegnet er Lauras Nachfolgerin und Gegenentwurf. Es macht Spaß, mit Fanny Zeit zu verbringen. Verliebtsein trifft ihn wie der Blitz: schwindlig werden, nicht essen können, dummes Zeug reden.

Kaum setzt der Liebeszauber ein, ist der des Romans verflogen: Lager, der im ersten Drittel mit geschärftem Blick und philosophischem Verstand das Haus der Wahrheit durch die Hintertür betrat, fährt jetzt mit dem Fahrstuhl in den banalen Liebeskeller zum geistlosen Plänkeln. Fanny bleibt als Figur blass. Es zieht sich: Man trinkt und denkt und hängt aufeinander. Für Sex ist die Liebe zu groß, fast schon ein bisschen katholisch mutet das an.

Obwohl sich die Dynamik gegen Ende langsam ausblendet: Sven Lager hat es geschafft, einen Roman über das Jungsein in der Stadt zu schreiben, der nicht hohl ist, sondern Saiten zum Klingen bringt. „Die Gedanken müssen einen Sound haben“, fordert der Protagonist. Seine haben einen, und das ist eine ganze Menge.

CONNY LÖSCH

Sven Lager: „Phosphor“. KiWi, Köln 2000, 236 Seiten, 18,90 DM