: Zu viel Pickel auf der Stirn?
Die Beratung der Gesellschaft – einige Überlegungen zum Phänomen von Rat und Tat
von PETER FUCHS
Jede Epoche gönnt sich Signaturen, mit denen sie sich offiziell über sich selbst verständigt. Unsere Zeit, wenn sie denn schon Epoche ist, kann sich spiegeln in Beschreibungen wie „Risikogesellschaft“, „Erlebnisgesellschaft“, „Informationsgesellschaft“, als Moderne, Post- oder Postpostmoderne. Im Rund der aufgestellten Spiegel spiegelt’s sich trefflich so hin und her und rundherum, als könne eine Gesellschaft wie ein Ding Eigenschaften haben, einer von jenen kleinen Irrtümern, die die intellektuelle Kommunikation nicht abreißen lassen.
Gegenüber jenen offiziell kursierenden Beschreibungen kann es aber manchmal Spaß machen, stattdessen auf die Schlafwandeleien einer Epoche zu achten, auf die Phantasmen, in denen sie sich einrichtet, auf Delirien, die sozial evident sind und eben deshalb funktionieren. Unsere Gesellschaft ist schließlich auch eine, in der ohne jede Aussicht auf Abenteuer Rucksäcke, Tieftauchuhren, Geländewagen alltäglich zuhandenes Zeug sind, in der soziale Erreichbarkeit in jeder Lebenslage schon auf dem Wege zum Bäcker durch die Mitnahme von Taschentelefonen signalisiert wird oder in der Leute berufsförmig losgeschickt werden, um zu kontrollieren, ob andere Leute bei der Arbeit lächeln, die wenig Grund zum Strahlen haben – ein Grinsedelirium, wenn man so will, durch das ausgestellte Mundwinkel und blitzende Zähne zur Maske verkommen, die nicht einmal Charakter hat.
Eine soziale Evidenz dieser Art mit unglaublicher Reichweite ist der Umstand, dass unsere Gesellschaft mit dem Phänomen der Beratung allenthalben durchschossen ist. Niemand ist noch nie beraten worden, aus jeder Ecke wird Beratung angeboten, und es gibt buchstäblich nichts, wozu sich nicht Beratung einholen ließe. Ärger mit Bratpfannenbeschichtungen? Dynamikverluste fünfzigjähriger Männer? Kurparkkrähenbefall? Zu viel Sex in Besenkammern von Unternehmen? Parteilichkeitsprobleme in Parteien? Studentenschwund? Intelligenzverluste? Pflegeprobleme? Zu viel Haare unter den Achseln? Zu viel Pickel auf der Stirn? – Die Liste wäre endlos und unabschließbar. Aber auch für Unabschließbarkeitsprobleme würde sich noch (ich schwöre) Beratung finden lassen. Und das ist das Problem: Wieso eigentlich? Woher kommt oder woran profitiert dieses in jeder Hinsicht moderne Phänomen?
Gewiss, es hat Rat und Tat auf irgendeine Weise immer gegeben, bei den Griechen als Idee der Wohlberatenheit, Bedingung eines gelingenden Lebens, später im Rekurs auf die Heilige Schrift die Vorstellung, dass es neben den Vorschriften christlichen Lebens (praecepta) auch Anratungen (consilia) gebe, deren Befolgen nicht erforderlich, aber nützlich sei, zum Beispiel die evangelischen Räte von Armut, Keuschheit und Gehorsam. Was Schamanen, Kräuterweiblein, Schriftkundige einst taten, es ließe sich gleichfalls, wenn auch nachträglich, als Beratung auffassen. Aber Beratung als massenhaftes Phänomen, als Unentrinnbarkeit, das ist in jedem Sinne neuartig und in seiner Überzeugungskraft überraschend. Denn vorausgesetzt wird in der Beratung von alter her eine Welt möglicher Stimmigkeit, ein Paramount der Ordnung, ein Kosmos, ein Universum, eine chain of being, in denen oder gegen die sich das Passende und das Unpassende unterscheiden ließ. Eine letzte Nichtkontingenz war immer vorausgesetzt, Ordnungsgarantien heraufbeschwörbar, an denen richtiges und falsches Verhalten unterschieden werden konnte – im Blick auf eine Zukunft, in der das Richtige nicht plötzlich verkehrt sein konnte – außer im Karneval, der befristeten Verdrehung des Richtigen.
Wenn aber etwas als modern gilt, dann doch gerade die Einsicht, dass es keine Ordnungsgarantien mehr gibt, die flächendeckend überzeugen könnten. Entscheidungen darüber, was richtig, was falsch, was unangemessen, was angemessen ist, fallen offensichtlich nur noch im Binnenhorizont der Gesellschaft selbst, ohne metaphysische Anlehnungsmöglichkeiten, ohne eine gesellschaftsweit Regeln setzende Vernunft. Spätestens seit der Reformation ist klar, dass verschiedene Beobachter verschieden beobachten und dass ihre Verschiedenheit sich nicht zurückrechnen lässt auf eine Welt jenseits der Operation der Beobachtung selbst. Unsicherheitsabsorption ist seitdem nur noch als Täuschung, als Rhetorik möglich. Beratung kann, so müsste man sagen, im Horizont einer durch und durch kontingent gesetzten Welt nicht mehr ohne weiteres durch die Kommunikation von Richtigkeiten überzeugen, da und dort vielleicht unter sehr kleinzeitigen und sehr lokalen Bedingungen, aber doch nicht schlichtweg und nicht in dieser Masse und nicht in der Höhenlage, die Worte wie Politikberatung, Unternehmensberatung, Sozial- und Seelenberatung suggerieren.
Von der Beratung her gesehen (gleich welcher Couleur), liegen die Verhältnisse allerdings dennoch günstig. Sie muss nicht selbst handeln außer in der Form des Beratens selbst, sie verhindert geradezu, dass irgendwer aktuell handelt. Sie schlägt Handeln vor. Dabei trifft es sich, dass die Welt nicht auf einen Kanon von Stimmigkeiten zurückgeführt werden kann. Beratung kann deshalb ihre Erfolgskriterien selbst formulieren, und sie ist darüber hinaus im Blick auf Erfolg/Misserfolg in einem streng logischen Sinn nicht kontrollierbar. Niemand wird je wissen können, was gewesen wäre, wenn Beratung nicht stattgefunden hätte. Es gibt keine Empirie des Möglichen. Insofern ist der Erfolg von Beratung ein hoch raffinierter Aushandlungs- und Zuschreibungsprozess, der es meistens nur und klugerweise unterlässt, dies auch noch mitzuteilen.
Von großer Nützlichkeit ist auch, dass mit der Einführung von nicht nur da und dort, sondern massenweise anfallender Beratung diese Sozialform unglaublich aushärtet. Sie eröffnet nämlich eine doppelte Falle: Wer sich auf Beratung einlässt, kann nur noch gegen oder mit dem Rat handeln. Er kann die Alternative selbst nicht verwerfen, denn das Verwerfen wäre Handeln gegen den Rat, und zwar auch dann, wenn man in derselben Sache eine andere Beratung aufsucht. Und: Wer sich nicht auf Beratung einlässt, dem kann vorgeworfen werden, dass er sich nicht hat beraten lassen. Vor allem in Organisationen lebt man unter diesem Druck. Wenn es Beratung gibt, muss sie in Anspruch genommen werden, und die Nichtinanspruchnahme ist wie die Inanspruchnahme als Entscheidung zurechenbar. Wer will, kann sich im Blick auf diese Falle an das psychoanalytische Setting erinnern.
Und noch etwas begünstigt den Erfolg dieser sich so sanft gerierenden, aber in Wahrheit so knallharten Form der Beratung: Sie ist gekoppelt an die Dämonisierung aller Lebenslagen und Weltzustände der Moderne. Gekoppelt, das heißt, sie prosperiert einerseits daran, dass Beobachtungen nicht mehr still und auf Dauer gestellt werden können. Was gerade noch Eisen enthielt, ist plötzlich nur noch ein kuhfladenartiges Gemüse im angeekelten Blick der Kinder, die schon immer Recht hatten; Magengeschwüre haben mit den Zuständen der Seele wenig zu tun; wer eben noch Bundeskanzler war, übt sich jetzt in der Dekonstruktion seiner eigenen Geschichte. Andererseits betreibt Beratung selbst Dämonisierung, indem sie auf den Massenmedien einherreitet, Ungemach und Rettung zur selben Zeit verheißend. Beratung und Massenmedien befinden sich in einer glücklichen Allianz.
Dies alles ist nachgerade schmerzhaft unwahrscheinlich, weil man es wissen kann. Das nährt den Verdacht, dass die Funktion von Beratung in der Gesellschaft womöglich nicht darin liegt zu beraten. Ein erster Hinweis findet sich schon in der Etymologie des Wortes, es hat etwas mit Sammeln und Aufbewahren zu tun, steckt in Vorrat und in Unrat, auch in „to read“, dem Lesen (legere, legein), dem Aufheben und Weglegen. Es geht ganz offenkundig um Zeit, die aufgeschoben und verlagert wird. Das verblüfft nicht oder doch – je nachdem. Nicht: insofern es auf der Hand liegt, dass Beratungen Alternativen zu möglichem Handeln offerieren, also durch die Injektion von Möglichkeit die Tat, die ohne Rat riskant wäre, aufschieben. Doch: insofern Beratungen im Beschleunigungshorizont der Moderne entstehen, also punktgenau dort, wo es nicht um Aufschub gehen kann, sondern um das Tempo, das ja auch im Wort von der Temporalisierung der modernen Gesellschaft steckt. Da Kommunikation nicht schneller und nicht langsamer wird (ein Gespräch mit einem Freund in New York ist nicht schneller als eines zwischen Tür und Angel), bezieht sich diese Beschleunigung auf das Tempo des Auf- und Abbaus von Strukturen. Strukturen, die einst Dauern waren, verwandeln sich mehr und mehr selbst: in Ereignisse. Laufende Strukturvernichtung wäre etwas, was man als Kennzeichen der Moderne auffassen könnte. Vanitas vanitatum vanitas – das ist ein erst heute ganz und gar begreiflicher Ausdruck des Schmerzes über die unentwegte Unruhe, die kein Stehen, kein Innehalten, keine Besinnung erlaubt. Es ist erwartbar, dass sich in dieser heraklitischen, in dieser fluidalen Welt Gegenhaltsprozesse bilden, Zeit dehnende und Zeit bindende Verfahren, und: dass sie evolutionär ausgezeichnet werden.
Eines dieser Widerlager ist nur allzu bekannt. Wir nennen es Demokratie. Ihre Konsensorientierung bindet Zeit in Massen. In Hochschulen ist das evident. Ein zweites, wer wüsste dies nicht, ist Bürokratie. Sie verschlingt Zeit, sie ist der Moloch unter den Beschleunigungsausbremsern. Das dritte Widerlager könnte Beratung sein. Auch sie ist klebrig und lehmig wie der Golem. Auch sie hält auf, verschiebt, bremst aus – in seltener Härte, so unentrinnbar wie Demokratie und Bürokratie.
Ist das gut, oder ist das schlecht? Gut, würde ich sagen. Denn alle drei Formen schaffen Lebenszeit. Im Aufschub kann man leben, lassen sich Verbissenheiten nur mühsam festhalten, lässt sich die verlorene Zeit wieder finden, kann man speisen, begehren, hassen, lieben und ohne Hast sterben. Auf derlei könnte es irgendwie ankommen. Und deshalb haben diese Formen etwas von einer heimlichen Gnade. Das Problem aber ist, dass zumindest Bürokratie (in zunehmendem Maße) und Beratung (schon längst) dem Druck der Temporalisierung nachgeben. Sie sind marktförmig geworden. Sie glauben an den Mythos der Effizienz, weniger an den Aufschub und das Leben. Für Beratung gilt in jedem Fall, dass sie in immer kürzeren Wellen immer neue Plausibilitäten für ihre Themen und ihre Leistungsfähigkeit herbeischaffen muss. Beratung wird hektisch. Sie muss sich deshalb selbst aufschieben und beraten werden von Beratungsberatern, die ihrerseits beraten werden müssen.
Das ist längst Realität. Und wenn meine Berater mich richtig beraten haben, sollte wenigstens dies nicht mehr im Modus der Ironie gesagt sein.
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